Gesetz und Evangelium bedingen die Anthropologie des Christentums

Was der Pessimismus vom Elend des Lebens sagt, ist zum großen Teil wahr. Aber er kennt nicht den eigentlichen Grund des Elends und darum auch nicht die Heilung. Nicht, dass wir Menschen sind, macht uns elend, sondern dass wir gefallene Menschen sind. Und nicht das Dasein ist das Übel, sondern die Sünde[1]. Das ist die Lehre des Christentums.

Darum besteht auch die Hilfe nicht, wie der Pessimismus lehrt und wie der Buddhismus träumt, zu dem sich jener bekennt, in der Bewusstlosigkeit[2], sondern in der Vergebung der Sünde, nicht in der Bewusstlosigkeit, die uns erniedrigt, sondern in der Erlösung durch die Gnade Gottes, die uns erhebt. Das sind die zwei Hauptsätze[3] der christlichen Weltanschauung vom Menschen: dass er, der für Gott und die Gemeinschaft mit ihm geschaffen und bestimmt war, gefallen und dadurch elend geworden, und dass er durch die Gnade Gottes erlößt und dadurch selig geworden ist.

Jene Erkenntnis stellen wir dem oberflächlichen Optimismus der rationalistischen Weltanschauung entgegen, diese dem hochmütigen Weltschmerz der pessimistischen. Die Erkenntnis des sündigen Verderbens läßt uns nüchterner vom Menschen denken als jener Optimismus denkt, und bewahrt uns eben deshalb auch vor allen unseligen Täuschungen des Lebens, zu denen seine Träume von der natürlichen Güte und der Heilsamkeit der indivduellen Freiheit geführt haben. Die Erkenntnis der Gnade Gottes in Jesu Christo aber lässt uns groß vom Menschen denken und bewahrt uns vor der pessimistischen Verzweiflung und Menschenverachtung, mit welcher der Pantheismus und Materialismus [im Pessimismus] endigt.

 

Prof. E. Luthardt, „Vorträge über die modernen Weltanschauungen“, gehalten zu Leipzig im Winter 1880, 10. Vortrag, Fussnoten von uns

Eine meisterhafte Darlegung der christlichen Glaubensgrundlehre in ihren einfachsten Zügen, die uns Prof. Luthardt da beschert. Hieran könnten wohl alle weiteren Dogmen sauber ausgeführt werden. Jesus Christus und der Bezug auf ihn ist eben das, was die Eigenständigkeit der christlichen Kirche gegenüber den Denkmodellen der anderen Religionen und Weltanschauungen begründet.

Was uns hier und in der gesamten westlichen Welt sowohl in der Gesellschaft als auch dezidiert in den Großkirchen heute am meisten begegnen wird, ist wohl der Rationalismus und sein falscher Optimismus in Bezug auf die Natur des Menschen. Der wirklich schopenhauersche Pessimismus ist derzeit, anders als im ausgehenden 19. Jahrhundert, nicht so angesagt. Man verharrt eher im materialistischen Hedonismus, ohne bis zu seinem Ende, in den „hochmütigen Weltschmerz“ vorzudringen.

Wenn die Kirche selbst dem falschen Optimismus in Bezug auf die Natur des Menschen verfällt und das Evangelium von Jesus Christus mit dem Evangelium vom guten Menschen, der noch nicht ganz befreit ist, vertauscht, dann hört sie jedoch nicht nur auf Kirche zu sein (siehe CA7), was an sich katastrophal genug ist. Doch sie enthält der Menschheit damit auch zutiefst existenzielle, lebenswichtige Wahrheiten vor. Ihr Unglaube wird zuerst mit der Strafe Zacharias‘ geschlagen: sie verliert ihr Stimme (Lk 1,20). Und das zuerst zum Schaden derer, die hören könnten. Möge Gott, wo immer dies zutrifft, Reue und Umkehr schenken.

 

[1] Das heißt sowohl der fluchähnliche Zustand aller Menschen nichts Gutes wollen und tun zu können (Erb- oder Ursünde – siehe z.B. hier, hier und hier), als auch die tatsächlich begangenen Sünden und ihre sich anhäufenden Konsequenzen (Tatsünde).

[2] oder dem Aufhören, der Auflösung des Seins

[3] Nähmlich Gesetz (u.a. als Nachweis der tatsächlichen Existenz der Sünde) und Evangelium (Botschaft von der Vergebung der Sünde)

[4] …im Pessimismus…

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