Die wertvolle Idee dahinter. Oder: Ermutigende Worte ex nihilo – der Knebel um den Mund des Autoren

Mit großem Scharfsinn und viel Engagement versuchen sich Menschen, meist Theologen oder Pfarrer, daran, die biblischen Erzählungen als Mythos zu „entlarven“. In ihrem innerlichen Wörterbuch steht das Wort Mythos für: Eine ausgedachte Fabel, die mit der Realität nicht viel zu tun hat, aber ein wunderbares Bild bzw. eine nette Wunschvorstellung ist. Diese Wunschvorstellung könne, so diese Menschen, dann Kraft im alltäglichen Leben geben, weil sie Hoffnung freisetzt, alternative Denkweisen ermöglicht oder einfach dazu anregt, sich fallen zu lassen.

Kommt Kritik aus der frommen Ecke, dann bezieht sie sich meist auf die Einordnung eines biblischen Textes als Mythos. Nein, die Geschichte sei kein Mythos, sie sei tatsächlich so geschehen  und erst die Geschehensrealität der Geschichte mache ihren eigentlichen Wert aus.

So sehr diese Kritik nachvollziehbar ist, sie könnte ihren Hebel doch an einer besseren Stelle ansetzen. Ein Mythos ist keineswegs eine nicht-geschehene, a-reale Begebenheit. Manche biblischen Geschichten sind tatsächlich in einer mythischen Sprache oder Form niedergeschrieben. Aber der Mythos ist keine bloße Erfindung zur Unterhaltung der Kleinkinder. Der Mythos ist innerhalb seines eigenen Verständnisrahmens genauso real, wie das Physiklehrbuch im neuzeitlichen Denksystem. Seine Wahrheit ist realer Natur – sofern man sich auf seine Voraussetzungen einlässt.

Warum ist das so? Wir wollen noch eine Stufe niedriger ansetzen und uns den Begriff „Symbol“ anschauen. Hier findet die Relativierung folgendermaßen statt: eine Sache ist „lediglich symbolisch“. Sie ist nicht real, sondern nur ausgedacht, soll aber auf etwas Reales hinweisen. Das Symbol hat aber keinen Wert, wenn es bloß ein Bild ist. Es muss ein Bild für etwas sein. Es braucht einen Referenzpunkt, eine Art Anker, von dem aus sich das Bild erschließt. Ein Symbol, das keine Tatsächlichkeit versinnbildlicht, wäre sinn- und damit wertlos. Es braucht also eine Verbindung vom Symbol zum symbolisierten Geschehen oder Objekt, damit sich das im Symbol ausgedrückte auch erschließt. Ein Symbol ist dann eine Verdichtung, ein auf-den-Punkt-bringen einer Sache und weist insofern über sich hinaus. Wenn der Ehering Symbol einer treuen Beziehung zwischen zwei Menschen ist, ergibt das keinen Sinn, wenn es nicht die Idee einer solchen Beziehung gibt. Ein Mensch, der die Idee der Ehe nicht kennt, wird den Symbolgehalt des Rings nicht erkennen und den Ring nur als Schmuckstück wahrnehmen. Symbole können nicht im luftleeren Raum existieren, dort können sie nicht entstehen. Wenn das Abendmahl Symbol der Anwesenheit Christi ist, dann ist das ein wertloses Bild, wenn Christus nicht wirklich anwesend ist, sondern „eigentlich“ „nur“ im Himmel. Die tatsächliche Anwesenheit und Darreichung des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl kann jedoch auf den gesamten Heilswillen Gottes, auf den Tod Christi am Kreuz, auf das versprochene Gastmahl des Lammes nach dem Eschaton verweisen, ja, diese nicht tasächlich dort stattfindenden Wahrheiten verkörpern und in diesem Sinne kann der Begriff Symbol hier zutreffen verwendet werden.

Symbol ist also nicht das Gegenteil von Realität. Symbol ist die Verkörperung, ja die Verdichtung, einer anderen der Realität.

Nun noch einmal zu den mythologischen Geschichten. Welchen Sinn ergeben sie, wenn sie nur ausgedachte Geschichten sind? Mit der Abkehr der Griechen von ihren mythologischen Vorstellungen über ihre Götterwelt ging eine Entwertung einher. Für den Alltag des Griechen spielten sie – bisher beherrschend, indem geopfert werden musste, etc. – nun keine Rolle mehr. Geschichten gingen verloren, neue Vorstellungen gewannen an Wert. Interessant sind die griechischen Göttergeschichten heutzutage nicht als religiöse, sondern als kulturgeschichtliche Erzeugnisse. Psychologen greifen die Geschichte des Ödipus auf, Literaturwissenschaftler vertiefen sich in Homer. Aber kaum ein Mensch opfert heute noch seine Tochter dem Zeus, bevor er sich auf eine Seefahrt begibt.

Das Problem der modernen Mythologisierung der biblischen Erzählungen ist, dass genau das ihr Anspruch ist. Einerseits sollen die Texte keinesfalls auf realen Begebenheiten basieren, andererseits sollen sie gerade deshalb praktische Konsequenzen in meinem Alltag bzw. meinen Glauben haben.

Diese Vorstellungen findet sich zu allen Bereichen des Lebens Jesu. Schon die Jungfrauengeburt wird als Konstruktion eines Möchtegerntheologen, der sich durch alte Texte dazu gezwungen fühlte, abgetan, dabei aber herausgestrichen, dass es ja eine wertvolle Idee sei, wenn man als Kern die Botschaft behalte, Maria habe eben ganz auf Gott vertraut. Das sei ja das eigentlich wichtige. Weiter geht es mit den Wundern Jesu. Da sind die Dämonenaustreibungen natürlich keine Dämonenaustreibungen – wer soll denn sowas glauben – aber die „Idee dahinter“ ist doch eine ganz nette. Dämonen symbolisieren nun eben die zwischenmenschlichen Probleme im Leben, die der autodidaktische Psychologe Jesus souverän löst. Auch sei Jesus nicht auferstanden, sondern sein Körper sei im Grab verwest. Aber die Jünger hätten das Gefühl gehabt, dass Jesu Worte in ihnen nachwirken, hätten deshalb Erscheinungen des Auferstandenen projektiert, sich so Mut zu gesprochen und damit das Christentum gegründet. Die „wertvolle Idee hinter“ dem Auferstehungsmythos ist, dass Jesu Botschaft befreit, die Macht des Mundtotmachens gebrochen wird, etc. pp.. Jedenfalls geht es ganz bestimmt um den Konflikt zwischen den Mächtigen und den Schwachen der Erde.

Das Schöne an der wertvollen Idee dahinter ist, dass ich sie immer neu beliebig konstruieren kann. Je nach dem, was mir wichtig ist, setzte ich die Akzente. Diese Form der Allegorisierung und Mythologisierung von Texten hilft mir also, meine ganz persönliche Sicht zu verkündigen, Unliebsames wegzureden und meine vorgefasste Meinung in den Text hineinzutragen. Sie reiht sich gut ein in den Kontext der Diktatur des rezipierenden Subjekts, die in den letzten 50 Jahren die vermeintliche Diktatur des schaffenden Genies abgelöst hat. Das Problem: Diese Form der Auslegung macht die biblischen Texte völlig irrelevant. Sie verkommen zu bloßen Aufhänger, die ich benutze, um schließlich auf meine eigenen Gedanken zu kommen und sind somit beliebig. Ich könnte auch Homer zitieren. Aus der Ilias folgt die wertvolle Idee, dass man manchmal im Leben auch Geduld haben muss, dass Erfolg etwas kostet und dass Manche auf der Strecke bleiben. Und die Odyssee hat die wertvolle Idee, dass sich Treue auch lohnt, wenn der Partner im Stau steht oder sich verfahren hat, weil es auf lange Sicht zusammen doch schöner ist. Der Autor selbst ist verstummt, wird todgeschwiegen. Am Ende kann man dann zu allen Begebenheiten in den Evangelien sagen: „Jesus didn’t dance – but his beat goes on.“

Aus lutherischer Sicht ist hier von einem Verlust des extra nos zu sprechen. Was damit gemeint ist, lässt sich an folgendem Luthersatz zeigen:

Das ist der Grund, weshalb unsere Theologie gewiss ist: weil sie uns von uns selber wegreißt und uns außerhalb unserer selbst setzt – so, dass wir uns nicht stützen auf unsere Kräfte, unser Gewissen, unseren Sinn, unsere Person, unsere Werke, sondern uns vielmehr auf das stützen, was außerhalb unserer ist, nämlich auf die Zusage und Wahrheit Gottes, die nicht trügen kann.

(WA 40 I, 589, zit. nach Bayer, Martin Luthers Theologie, 7)

Indem ich den Text zu meinem Text mache, der das sagt, was ich sowieso schon wusste und wollte, verliere ich (unter anderem) diese Dimension. Was bleibt, sind Ungewissheit und Zweifel. Sobald ich andere Erfahrungen mache, andere Vorstellungen hege, wird meine frühere Idee wertlos. Das bedeutet aber: Hat der Glaube keinen Referenzpunkt außerhalb seiner selbst, ist er wertlos. So ist für eine Bibelauslegung, die die Methode der „wertvollen Idee dahinter“ vertritt, festzustellen:

Bei dieser Form der Auslegung werden die biblischen Geschichten nicht zum Symbol und auch nicht zum Mythos. Sie werden vor allem beliebig und austauschbar. Symbol und Mythos dagegen sind fest auf Tatsachen und Wahrheiten gegründet und fassen diese lediglich in eine Sprache, weil die „Tatsache an sich“ nicht aussprechbar ist. So ist das Wunder der Inkarnation für uns nicht zu fassen, es bleibt ein Wunder. Ebenso wie die Wunder Jesu, ebenso wie die Auferstehung. Wir Menschen können den Vorgang, der zum leeren Grab und zum Auferstandenen führt, nicht technisch beschreiben. Uns bleiben nur Bilder und Vergleiche, die uns die Bibel zeichnet. Insofern ist das, was sie berichtet, ein Mythos, ein Symbol. Aber ein ernstzunehmender.

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