Dass die Bibel ausgelegt wird, darüber besteht wohl unter Christen unterschiedlicher Konfession und kirchlicher Prägung kaum Diskussionsbedarf. Dass sie ausgelegt werden muss, ist vermutlich schon etwas umstrittener. Mancher würden wohl sagen, dass der reine Buchstabe genügt und jede Auslegung überflüssig ist, weil sie die Objektivität des göttlichen Wortes verfälscht. Andere, die nicht infrage stellen, dass jede Rezeption eines Textes auch Deutung desselben ist, kritisieren es, wenn eine Auslegung vorgegeben wird. Jeder Hörer soll doch bitte selbst erkennen, wie der Text für ihn persönlich zu deuten ist.Auf jeden Fall wird jede Seite zu zeigen versuchen, warum ihre Meinung der ursprünglichen Intention des Textes gerecht wird.
Lutheraner wissen um die Notwendigkeit der Schriftauslegung.[1] Das Evangelium muss gelehrt werden, es muss zur Sprache gebracht und bezeugt werden. Wer aber das Evangelium bezeugt, tut dies in seinen eigenen Worten, in Worten, die sein(e) Hörer verstehen. Die Bibel muss ausgelegt werden, wie aber geschieht dies sachgemäß, sodass das Evangelium rein gepredigt wird?[2]
Hinweise zur angemessenen Schriftauslegung finden sich im Hauptwerk des Flacius mit dem Titel „Clavis Scriptura Sacra“, „Schlüssel zur Heiligen Schrift“. Matthias Flacius Illyricus (1520-1575) ist eine kirchengeschichtlich umstrittene Person. Er ist bekannt für heftige Dispute, unversöhnlichen Positionen und kämpferischen Eintreten des aus seiner Sicht Richtigen. Umstritten ist seine unversöhnliche Position in vielen theologischen Streitigkeiten der damaligen Zeit, deutlich abgelehnt wurde seine Haltung zur Erbsündenlehre. Trotz dieser bestreitbaren Einstellungen ist er aber auch Autor des unumstritten bedeutsamsten Hermeneutiklehrbuch der frühen lutherischen Christenheit. In diesem zählt er „acht Heilmittel zur Beleuchtung der Bibel“ auf, die nachfolgend neben weiteren Anmerkungen als anregende Hinweise für eine Debatte zur Schriftauslegung zu lesen sind:
- Suche den dreieinigen Gott und sein Werk.
- Erkenne die Dinge, die in der Schrift verhandelt werden, vor allem unsere Krankheit und dem einzigen Arzt Jesus Christus.
- Benutze das Werkzeug der Sprache, um die Worte zu verstehen.
- Sei beharrlich in Meditation und Erforschung der Schrift.
- Bete leidenschaftlich.
- Nutze wahrhaftige und lebendige Erfahrung.
- Vergleiche die Bibelstellen untereinander.
- Nutze gute Übersetzungen und treue Bibelinterpreten.[3]
Flacius findet damit eine Mittelposition zwischen einer historisch-kritischen und einer fundamentalistischen Exegese: Unumstößlich ist die Suche nach und das Hören auf Gott, der sich im Wort der Schrift finden lässt. Ebenso wichtig ist aber auch eine genaue Untersuchung des Textes, der diesen sowohl im Einzelnen aus in seinem Gesamtkontext betrachtet und um sprachliche Barrieren weiß. Nicht zuletzt soll niemand glauben, dass nur er allein das Wort Gottes richtig verstehen kann. Die eigene Erkenntnis soll mit Blick auf andere Ausleger überprüft, geschärft und korrigiert werden.
Für Flacius ist die „Auslegung […] fürwahr nicht eine Sache privater Arbeit oder menschlichen Fleißes, wie auch Petrus bezeuge, sondern der Heilige Geist […] könne auch allein sie auslegen und veranschaulichen […].“ Die falschen Ausleger „führen uns nicht zu Christus, der einzigen Sonne der ganzen Welt und dem Skopus der Heiligen Schrift.“[4]
Bibellektüre und -auslegung hat deshalb nach Flacius nur ein einziges Ziel, einen einzigen Zweck: Alle Schriften und der Heilige Geist selbst drängen uns, Gott zu vertrauen („tota enim scriptura, et ipsemet spiritus sanctus, id praecipue agit, ut nobis persuadeat, nosque permoveat, deo fidere“[5]). Wo dies nicht möglich ist, sondern Angst und Zweifel gesäht werden, ist nach Flacius der Weg hin zu einer falschen Bibelauslegung eingeschlagen.
[1] Schon in der Schrift selbst finden wir Schriftauslegung: Auslegung des Alten Testaments im Neuen Testament. Auch durch die ganze Kirchengeschichte zieht sich diese Einsicht, die im Medium der Predigt greifbar wird (welche von den Reformatoren nur neu in den Fokus gerückt wird). Wer die Notwendigkeit der Auslegung bestreitet, isoliert sich damit von allen Strömungen und Richtungen des Christentums.Aber auch aus einer anderen Richtung kann man auf diesen Sachverhalt blicken: Die Bibel ist uns sprachlich gegeben, Sprache und Übersetzung aber sind immer Deutung, so wie jeder andere Kommunikationsvorgang. Deutung aber ist schon Auslegung. Insofern kommt es bei aller Kommunikation, und soit auch beim Lesen der Heiligen Schrift darauf an, den (vom Autor des Wortes) beabsichtigten Sinn zu erfassen. Das geht nicht ohne Auslegung, sondern nur mit Auslegung, die sich um diesen Sinn ernsthaft bemüht.
[2] CA VII: Die Kirche „ist die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament laut des Evangelii gereicht werden.“ BSLK, Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Göttingen 1955 (2. Aufl.), S. 61.
[3] Rudolf Keller, Der Schlüssel zur Schrift, Hannover 1984, S. 131.
[4] Keller, Schlüssel, S.128.
[5] Keller, Schlüssel, S. 132.