Ist der Verweis auf eine „unterschiedliche Hermeneutik“ – d.h auf eine Grundverschiedenheit des angewandten Auslegungsprinzips beim Bibelverständnis – die eierlegende Wollmilchsau jeder theologischen Debatte?
Zumindest ist er der Weg zu einer Kirche der Unionen – inhaltlich nicht übereinstimmende Positionen können gemeinsam verwaltet und organisiert werden bzw. bleiben. Aber ist dieser Umgang mit voneinander abweichenden Positionen zum christlichen Glauben ein der Kirche Angemessener? Der Vertreter eines pluralistischen Weltbilds wird das in jedem Fall bejahen: Unterschiedliche Positionen können nicht nur, sie müssen zusammen kommen, denn jeder Mensch hat seine individuelle Position.
Doch was ist eigentlich notwendig, damit von Kirche gesprochen werden kann? Eine knappe Formulierung finden wir in CA VII:
Denn dieses ist genug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirche, daß da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden. Und ist nicht not zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirche, daß allenthalben gleichförmige Zeremonien, von den Kirchen eingesetzt, gehalten werden; wie Paulus spricht Eph. 4,5.6: „Ein Leib, ein Geist, wie ihr berufen seid zu einerlei Hoffnung eures Berufs, Ein Herr, Ein Glaube, Eine Taufe.
Eine gemeinsame Kirche scheint also nicht schwer – allerdings ist die reine Predigt des Evangeliums doch nicht so leicht, wie es vielleicht auf den ersten Blick scheint:
Eine evangelische Kirche, die die Lehre von der Glaubensgerechtigkeit als Selbstverständlichkeit ansieht, bei der man sich nicht mehr aufzuhalten braucht, weil andere Fragen brennender sind, hat sich im Prinzip der Möglichkeit beraubt, in diesen anderen Fragen zu einhelligen Lösungen zu gelangen. Sie wird sich immer mehr spalten und zerreiben. Tut man nämlich diesen Artikel von der Rechtfertigung aus der Mitte, dann werden wir sehr bald kaum noch wissen, warum wir evangelische Christen sind und bleiben müssen, dann wird man die Einheit der Kirche erstreben und die Reinheit des Evangeliums hinopfern, dann wird man sich von Kirchenordnung und Kirchenregiment, von der Reform des geistlichen Amtes und der Kirchenzucht mehr versprechen, als diese leisten können, dann wird man Frömmigkeit hofieren und die Lehre ächten, dann wird man in Gefahr kommen, tolerant zu sein, wo man radikal sein müßte, und radikal, wo man tolerant sein darf […].
Hans J. Iwand, Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre, in: G. Sauter (Hrsg. ): Gesammelte Aufsätze Bd. II, München 1980, 15f.
Wird aus dem Artikel von der Gerechtigkeit Gottes und seines uneingeschränkt liebevollen Wirkens für uns – für mich – der Artikel von der Gerechtigkeit aller Menschen, dann zerbricht die Einheit. Und zwar sowohl, wenn die Menschen einander aufgrund ihres frommen Wirkens, wie auch, wenn sie sich aufgrund ihres bloßen Daseins gerecht sprechen. Gemeinsame Kirche kann also nicht da sein, wo Menschen einander ihre Gerechtigkeit zusprechen bzw. ein „ich bin ok – du bist ok“ in den Raum werfen. Sie ist aber da, wo gemeinsam auf die Gerechtmachung durch Gott fest vertraut und dem Wort und Handeln Jesu Christi entsprechend geglaubt wird.
Dieser gemeinsame Punkt muss auch der Anfangspunkt jeder theologischen Hermeneutik sein. Wer sich also der theologischen Debatte mit dem Verweis auf die unterschiedliche Hermeneutik entziehen will, muss zuerst prüfen, ob nicht dieser Grund berührt ist. In diesem Falle ist die eierlegende Wollmilchsau zu schlachten.