Fragt man in bestimmten Kreisen der Kirche danach, was die Aufgabe der Kirche sein soll, dann kann man ungefähr folgendes hören: Die Kirche soll den Menschen die Möglichkeit bieten, ihr eigenes Leben zu deuten. Deshalb werden dann die Glaubenssätze des Christentums auf keinen Fall mehr als verstehbare, inhaltlich bestimmende Sätze verstanden, denn das würde ja eine das Individuum von außen normierende Wahrheit voraussetzen, deren Teil diese Sätze sind. Die Ausdeutung des eigenen Lebens steht jedoch im Gegensatz zum Erkennen der eben genannten Wahrheit und ist das Handeln des über allem anderen stehenden Individuums.
Aber streichen möchte man die Lehrsätze trotzdem nicht. Zum Einen gäbe das doch zunächst einen Aufschrei von Gemeinden. Zum Anderen hätten diese Glaubenssätze doch eine Kraft – eine Prägekraft, die aus ihrer langen Vertrautheit entstände. Und ohne sie fühle man sich eben leer, man wüsste nicht, was man dann überhaupt noch sagen solle. Für Vertreter dieser Ansicht ist deshalb Jesus immer eine Figur, die Schwierigkeiten bereitet. Man kann aus dieser Art Lebens- und Seinsverständnis nur sagen, dass Jesus ebenso wie andere Leute vor und nach ihm Erfahrungen mit Gott gemacht habe. Alles andere seien dann eben Metaphern. Bei einigen Vertretern dieser Ansicht wird ihre Verwendung damit begründet, dass es Jesus und die Kirche selber nicht besser wusste; laut anderen, weil eben die Menschen noch nicht so weit waren, dass sie es verstehen hätten können, bei dritten sind sie aus böser Absicht verwendet worden. Für Vertreter dieser Ansicht ist jedenfalls – so meinen sie – der erste Glaubensartikel ungleich schöner:
Ich glaube an Gott den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erden.
(Apostolisches Glaubensbekenntnis, Erster Artikel, Die Schöpfung)
Da kann der moderne Christ aufatmen – endlich haben wir mal was, was man heute gut verkaufen kann: Weltverantwortung! Die fühlen wir doch ebenso, wie die der Buddhist fühlt. Oder Muslime. Oder Wissenschaftler (Wissenschaftler sind in diesem Denken oft per se areligiös). Ihnen allen ist es doch wichtig, dass wir hier auf dieser Erde so leben, dass es allen gut geht und wir die Welt nicht zerstören. Egal, was du glaubst, die Hauptsache ist es, Schöpfung zu bewahren. So zumindest kann man es oft lesen, wenn vom ersten Artikel die Rede ist.
Aber dann blicken wir nochmal genauer hin, reiben uns die Augen, und stellen fest: Moment mal, von Verantwortung und tun ist ja erst mal gar nicht die Rede! Was in diesen Zeilen steckt, ist kein billiger moralischer Aufruf – jetzt mach doch mal was Gutes! – sondern eine Konstation, die zunächst völlig unabhängig von uns geschieht. Nicht wir sind angesprochen, der Blick wird gelenkt, auf Gott gerichtet. Er ist das erste Wort, er ist Mittelpunkt und Anfang all dessen, was folgen wird. Er, der geschaffen hat. Er, der etwas ist, was wir gar nicht ausdrücken können. Genau eine uns objektiv gegenüberstehende Wahrheit, die durch unser Bekenntnis ihrer Tatsächlichkeit nichts für sie grundlegendes hinzugewinnt, doch die für uns in unserer gesamten Existenz grundlegend ist und deren Bekenntnis uns verändert, uns definiert.
Was heißt das für uns? Luther schreibt:
Was heißt das?
Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen , mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Frau und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit allem, was not tut für Leib und Leben, mich reichlich und täglich versorget, in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohne alle mein Verdienst und Würdigkeit. Für das alles ich ihm zu danken, zu loben, zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewißlich wahr.
Der Handelnde dieser Zeilen ist Gott. Wir bleiben passiv: sind geschaffen, werden erhalten und versorgt, bewahrt und beschirmt. Der erste Glaubensartikel setzt also, bevor irgendetwas geschehen kann, schon alle Grundlagen. Wir sind, haben und nehmen immer schon, bevor wir geben, leisten und erbringen. Wollten wir also Gott mit unseren Taten gegenübertreten, unserem gerechten Handeln, so müssten wir verzweifeln: Wir können den Vorsprung nie einholen. alles, was wir geben können, ist ein Teil dessen, was wir empfangen haben. Erkennen wir dagegen an, dass wir nie in Vorleistung gehen werden können, so können wir auch ganz unbeschwert und frei alles geben, was wir haben – es ist ja nicht unser, nie gewesen. Aus diesem Grund schließt Luther mit der Schuldigkeitsformel. Und auch hier zeigt sich wieder: die Realitätsgewichtung des Christentums hat ihr Gravitationszentrum bei dem uns objektiv gegenüberstehenden und sich selbst offenbarenden Gott. Umgekehrt ist es bei der Ansicht, die wir am Anfang beschrieben haben und die sich zwar in Kirchen breitgemacht haben mag, doch deshalb noch lange nicht „christlich“ sein muss.