Redaktionsanmerkung:
Während Martin Luther auf der Wartburg versteckt gehalten wurde, radikalisierte sich die Kirchenreform in Wittenberg. Die alten Formen wurden als unbiblisch bezeichnet und nicht mehr praktiziert. Diese Reformen wurden allerdings sehr zügig umgesetzt, ohne der Gemeinde die Möglichkeit zu geben, den neuen Glauben und seine Konsequenzen in der Feier des Gottesdienstes zu verstehen und sich an die Änderungen zu gewöhnen. So kam es zu Unruhen und Tumulten. Daraufhin verließ Luther die Wartburg. In der Woche des Invokavit-Sonntages hielt er acht Predigten, mit denen die Zustände zur Ruhe bringen konnte. Sie stehen damit exemplarisch für die reformatorische Überzeugung, dass der Glaube aus dem Hören der Predigt kommt und dass das Predigen des Evangeliums die Kirche baut (CA 7).
Im Folgenden wird die Predigt Luthers zum Sonntag Invokavit („rufe mich an“, Anfang des lat. Textes von Ps. 91,15) in sprachlicher Anpassung geboten, weil auch wir davon lernen können, wie wir mit den Zuständen in unseren Gemeinden umgehen sollen: Den Sünder und Schwachen in Liebe begegnen, ihn aushalten, und ihm die reine Lehre predigen – das gehört zusammen. Die Invokavit-Predigten erinnern uns: Der Glaube kann nicht erzwungen wurden, sondern muss zu Gehör gebracht werden, um Frucht zu bringen.
Sonntag Invokavit
Wir müssen allesamt sterben, und keiner wird für den andern sterben. Sonder ein jeder kämpft in eigner Person für sich mit dem Tod. In die Ohren wollen wir es schreien, aber ein Jeder muss in der Zeit des Todes für sich selber vorbereitet sein: Ich werde auch nicht bei dir sein, und du nicht bei mir. Deshalb muss ein jedermann selber die Hauptstücke, die einen Christen ausmachen, wohl wissen und gerüstet sein, und das sind die, die ihr vor vielen Tagen von mir gehört habt.
Zum Ersten, wie wir Kinder des Zorns sind und all unser Werk, Sinn und Gedanken sonderlich nichts sind. Das müssen wir mit einem klaren starken Spruch bezeugen. Also ist der Spruch des Paulus an die Epheser (2,3), den merke wohl (und wiewohl es viele in der Bibel gibt, will ich euch nicht mit vielen Sprüchen überschütten): „wir sind alle Kinder des Zorns“. Und nimm nicht für dich sprechend: Ich hab einen Altar gebaut, Messen gestiftet usw.
Zum Andern, dass uns Gott seinen einziggeborenen Sohn gesandt hat, auf dass wir an ihn glauben, und der ihm vertrauen wird, soll der Sünde frei und ein Kind Gottes sein. Wie Johannes in seinem ersten Kapitel sagt: „Er hat ihnen Gewalt gegeben, Kinder Gottes zu werden, allen den, die an seinen Namen glauben’. Hier sollten wir alle in der Bibel wohl bewandert sein und mit vielen Sprüchen gerüstet, die wir dem Teufel vorhalten. In diesen zwei Stücken spüre ich noch keinen Fehler oder Mangel, sondern sie sind euch rein gepredigt und es wäre mir leid, wenn es anders geschehen wäre; ja ich sehe es wohl und darf sagen, dass ihr gelehrter als ich bin, nicht allein einer, zwei, drei, vier, sonder wohl zehn oder mehr, die so erleuchtet sind in Erkenntnis.
Zum Dritten müssen wir auch die Liebe haben und durch die Liebe aneinander tun, wie uns Gott getan hat durch den Glauben, ohne welche Liebe der Glaube nichts ist. Wie Sankt Paulus in 1. Korin. 13, 1 sagt: „Wenn ich gleich wie der Engel Zungen hätte und könnte auf das allerhöchste vom Glauben reden und hab die Liebe nicht, so bin ich nichts.“ Hat es hieran, liebe Freunde, nicht sehr gefehlt?
Ich spüre in keinem die Liebe und merke sehr wohl, dass ihr Gott nicht dankbar gewesen seid um solchen reichen Schatz und Gabe.
Hier lasst uns zusehen, dass aus Wittenberg Kapernaum werde. Ich sehe wohl, dass ihr viel von Lehre wisst zu reden, welche euch gepredigt ist, von dem Glauben und der Liebe, und es ist kein Wunder: Kann doch schier ein Esel Lektionen singen, sollt ihr dann nicht die Lehre oder Worte reden und lehren? Also liebe Freunde, das Reich Gottes, das wir sind, steht nicht in der Rede oder in Worten, sondern in der Tätigkeit, das heißt in der Tat, in den Werken und Übungen. Gott will nicht Zuhörer oder Nachredner haben, sonder Nachfolger und Über. Und das in dem Glauben durch die Liebe. Denn der Glaube ohne die Liebe ist nicht genug, ja ist kein Glaube, sondern ein Schein des Glaubens, wie ein Angesicht, im Spiegel gesehen, kein Angesicht, sonder nur ein Schein des Angesichts ist.
Zum Vierten ist uns auch die Geduld notwendig: Denn wer den Glauben hat, Gott vertraut und seinem Nächsten Liebe erzeigt, in der er sich täglich übt, der kann nicht ohne Verfolgung sein, denn der Teufel schläft nicht, sondern gibt ihm genug zu schaffen, aber die Geduld wirkt und bringt die Hoffnung, welche sich frei ergibt und sich in Gott verbirgt. Und so nimmt der Glaube durch viel Anfechtung und Anstöße immer zu und wird von Tag zu Tag gestärkt. Solches Herz, mit Tugenden begnadet, kann nimmer ruhen, noch sich erhalten, sondern gießt sich wiederum aus zu Nutz und Wohltat gegenüber seiner Bruder, wie ihm von Gott geschehen ist.
Hier, liebe Freunde, soll ein jeder nicht tun, wie er Recht hat, sondern sehen, was seinem Bruder nützlich und förderlich ist, wie Paulus sagt (1. Kor 6, 12): „Wir mögen wohl alle Dinge tun, aber nicht alle Dinge sind förderlich“, denn wir sind nicht alle gleich stark im Glauben. Denn etliche unter euch haben einen stärkeren Glauben als ich. Darum dürfen wir nicht auf uns oder unser Vermögen sehen, sondern auf das unseres Nächsten, wie Gott durch Mose gesprochen hat (5. Mose 1,31): „Ich hab dich getragen und aufgezogen, wie eine Mutter mit ihrem Kind tut.“ Was tut die Mutter mit ihrem Kind?
Zum Ersten gibt sie ihm Milch, danach einen Brei, danach Eier und weiche Speise: Wo sie es zum ersten wendete und harte Speise gäbe, würde aus dem Kind nichts Gutes werden. Also sollen wir auch unserm Bruder tun, Geduld mit ihm tragen eine Zeit lang und seine Schwacheit dulden und tragen helfen, ihm auch Milchspeise geben, wie uns geschehen ist, bis auch er stark werde. Wir sollen nicht allein gen Himmel fahren, sondern unsere Brüder, die jetzt nicht unsere Freunde sind, mitbringen: Sollten alle Mütter ihre Kinder wegwerfen, wo wären wir geblieben? Lieber Bruder, hast du genug gesogen, schneid ja nicht alsbald die Brustwarze ab, sondern lass deinen Bruder auch saugen, wie du gesogen hast. Ich hätte es nicht so weit getrieben, wie es geschehen ist, wäre ich hier gewesen. Die Sache ist wohl gut, aber das Eilen ist zu schnell, denn auf jener Seite sind auch noch Brüder und Schwestern, die zu uns geboren sind, die müssen auch noch herzu.
Höre ein Gleichnis: die Sonne hat zwei Dinge, den Glanz und die Hitze. Es ist kein König so stark, der den Glanz der Sonne biegen oder lenken könne, sondern er bleibt in seiner Stelle geordnet. Aber die Hitze lässt sich lenken und biegen. So auch der Glaube, er muss allezeit rein unbeweglich in unseren Herzen bleiben und wir dürfen nicht davon weichen. Aber die Liebe biegt und lenkt sich, damit unser Nächster begreifen und folgen mag. Es gibt etliche, die könnten wohl rennen, etliche wohl laufen, etliche kaum kriechen. Darum dürfen wir nicht unser Vermögen, sondern das unseres Bruders betrachten, auf dass der Schwache im Glauben, so er dem Starken folgen wollte, nicht vom Teufel zerrissen werde. Darum, liebe Brüder, folgt mir, ich hab es ja nicht verdorben. Ich bin auch der Erste gewesen, den Gott auf diesen Plan gesetzt hat. Ich kann ja nicht entlaufen, sondern nur so lang bleiben, wie es Gott erlaubt. Ich bin auch der gewesen, dem es Gott zuerst offenbart hat, solche seine Worte zu predigen. Ich bin auch gewiss, dass ihr das lautere Wort Gottes habt.
Darum lasst uns mit Furcht und Demut handeln, und Einer dem Anderen unter den Füßen liegen, die Hände einander reichen, einer dem andern helfen; ich will das meine tun, wie ich schuldig bin, und meine euch wie ich meine Seele meine. Denn wir streiten nicht wider den Papst oder Bischof usw., sondern wider den Teufel. Denkt ihr, dass er schläft? Er schläft nicht, sondern er sieht das wahre Licht aufgehen: Damit es ihm nicht unter die Augen gehe, wollte er gerne zur Seite einreißen, und er wird es tun, werden wir nicht aufsehen. Ich kenn ihn wohl, ich hoffe auch, so Gott will, dass ich sein Herr bin: Lassen wir ihm einen Fuß breit nach, so sehen wir, wie wir seiner los werden. Deshalb haben alle die geirrt, die dazu geholfen und eingewilligt haben, die Messe anzuschaffen. Nicht, dass es nicht gut gewesen wäre, sondern, dass es nicht ordentlich getan wurde. Du sprichst: es ist recht, aufgrund der Schrift. Das bekenne ich auch, aber wo bleibt die Ordnung? Denn es ist in einem Frevel geschehen ohne alle Ordnung, in Verärgerung des Nächsten: Wenn man hätte gar mit Ernste zuvor darum gebeten haben und die Obersten dazu genommen haben, so wüsste man, das es aus Gott geschehen wäre. Ich wollte es auch wohl angefangen haben, wenn es gut gewesen wäre. Wenn es nicht so ein bößes Ding wäre um die Messe, so wollte ich sie wieder aufrichten, denn ich weiß es nicht zu bekämpfen, ich will es auch eben gesagt haben. Denn vor den Papisten und groben Köpfen könnte ich es wohl tun, denn ich wollte sprechen: Was weißt du, ob es in einem guten Geist oder bösen geschehen ist, da doch das Werk für sich selbst gut ist. Aber vor dem Teufel weiß ich nicht zu suchen. Denn wenn der Teufel denjenigen, der das Spiel angefangen hat, beim Sterben diese Sprüche oder dergleichen vorhalten würde: „Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, die werden ausgerissen.“ oder den „Ich sandte die Propheten nicht, und doch laufen sie; ich redete nicht zu ihnen, und doch weissagen sie.“, wie wollten sie bestehen? Er stößt sie in die Hölle. Aber ich will ihm wohl in dem einen Spieß vor die Nase halten, dass ihm auch die Welt zu eng werden soll, denn ich weiß ja, dass ich von dem Rat zu predigen (wiewohl ich mich gewehrt habe) berufen bin. Also wollte ich euch auch gerne wie mich haben, hättet ihr mich auch dazu befragen können.
Ich bin ja nicht so fern gewesen, ihr hättet mich mit Briefen erreichen können. Zumal ich nicht das geringste Stück hergeschickt habe: Wollt ihr etwas anfangen und ich sollte es verantworten, das wäre mir zu schwer, ich werde es nicht tun. Hier merkt man, dass ihr den Geist nicht habt, wiewohl ihr eine hohe Erkenntnis der Schrift habt. Merket euch die beiden Stücke „sein müssen“ und „frei sein“: Denn „muss sein“ ist das, was die Notdurft fordert und unbeweglich bestehen muss, als da ist der Glaube, den lass ich mir nicht nehmen, sondern muss ihn allezeit in meinem Herzen haben und vor jedermann frei bekennen. „Frei sein“ aber ist das, welches ich frei habe und es gebrauchen oder lassen mag, aber so, dass mein Bruder und nicht ich den Nutzen davon habe. Und macht mir nicht aus dem ein „muss ein „frei sein“, wie ihr getan habt, auf dass ihr nicht vor denjenigen, die ihr durch eure lieblose Freiheit verleitet habt, Rechenschaft geben müsst. Denn wenn du einem dazu rätst, den Freitag Fleisch zu essen, und er im Sterben angefochten würde und also denkt: „O weh mir, dass ich Fleisch gegessen hab und nicht bestehen kann“, über den wird Gott Rechenschaft von dir fordern. Ich wollte auch wohl viele Dinge anfangen, da mir wenige folgen würden, was hülfe es aber? Denn ich weiß, dass die, die solches angefangen haben, wenn es zum Treffen käme, nicht bestehen könnten und die ersten sein würden, die da zurücktreten würden. Wie würde es sein, wenn ich den Haufen auf den Plan brächte, und ich (der ich der erste gewesen bin, der die andern angehalten hat) und wollte den Tod fliehen, und nicht fröhlich warten: Wie würde der arme Haufen verführt werden. Deshalb lasst uns den Anderen auch so lange Milchspeise geben, wie uns geschehen ist, bis sie auch im Glauben stark werden. Denn ihrer sind noch viele, die uns sonst zufallen und gerne dieses Ding auch mit haben und annehmen wollten, und besonders sie könnten es wohl nicht begreifen, wir würden sie zurücktreiben. Darum lasst uns unseren Nächsten gegenüber Liebe erzeigen: Werden wir das nicht tun, so wird unser Tun nicht bestehen; denn wir müssen doch auch eine Zeit lang mit ihnen Geduld haben und den nicht verwerfen, der noch schwach im Glauben ist. Wir müssen viel mehr tun und lassen, so es die Liebe erfordert und es uns nicht an unserm Glauben Schaden bringt. Werden wir nicht Gott ernst bitten und uns in die Sache recht schicken, so meine ich, dass all der Jammer, der auf die Papisten [gekommen ist], über uns kommen wird. Deshalb habe ich nicht länger ausbleiben können, sondern habe kommen müssen, um euch solches zu sagen […].