Letzte Woche schon ging es um Semantik im Sinne der Frage, ob man sich denn die Bedeutung von Worten einfach so selbst frei wählen darf und was das für Konsequenzen hat. Diese Sache ist aber keineswegs erst fünfzig Jahre alt, auch wenn die Herrn Derrida, Foucault, Deleuze und so weiter sich vielleicht gern origineller eingeordnet hätten. Und daher haben wir uns wieder an Prof. Luthardt und seine Vorträge über „Die modernen Weltanschauungen und ihre praktischen Konsequenzen“, 1880 zu Leipzig gehalten, gewand und sind fündig geworden. Wie so oft überfährt einen hier und da ein leichter anachronistischer Schauer, denn das wirkt doch so bekannt. Sollten die heute modernen Weltanschauungen doch nicht ganz so modern sein? Oder eben schon seit bald hundertvierzig Jahren modern?
„Lassen Sie mich von diesem modernen Rationalismus reden.
So hat man erkannt, dass man auf die psychologischen Wurzeln der Religion im inneren Geistes- und Gemütsleben zurückgehen müsse, man untersucht diese mit dialektischem Scharfsinn und leitet daraus die ganze Religion ab. Aber man vergisst dabei, dass das Christentum nicht bloß ein psychologisches Erzeugnis des natürlichen Menschenherzens ist, sondern vor Allem eine Tatsache übernatürlicher göttlicher Offenbarung. Oder man begnügt sich nicht mit dieser allgemeinen Religion des Gemüts, sondern man geht auf das christliche Bewusstsein selbst zurück, wie es nicht bloß im Einzelnen sondern in der Gemeinde vorhanden sei, und sucht von da aus die Erkenntnis des Christentums zu gewinnen. Aber das Christentum, das man so gewinnt, ist im Grunde doch nur Moral, und die Religion, wie bei Kant, nur Dienerin der Moral; alles Tiefere, Innerlichere und alles Mysterium wird über Bord geworfen.
Das Wesen des Christentums – sagt man etwa – besteht in den drei großen Grundideen der Offenbarung, der Erlösung und des Reichs Gottes. Aber was versteht man darunter? Die Offenbarung ist nicht, was die Kirche bisher darunter verstanden hat, jene große Geschichte die sich zwischen Gott und der Menschheit begeben, in welcher Gott selbst sich gegen uns erschlossen hat und sich zu uns geneigt und in Jesu Christo zu uns gekommen ist, sondern nur unsere Gedanken haben sich geändert und sind richtiger geworden; wir haben Gott richtiger verstehen gelernt, es fällt Alles nicht auf die Seite Gottes sondern nur auf unsere Seite. Denn auch die Erlösung besteht nicht darin, dass Gott um Christi Willen uns gnädig geworden ist und uns unsere Sünde vergeben hat auf Grund des Versöhnopfers[1], sondern nur wir urteilen anders über unser Verhältnis mit Gott. Gott ist stets die unveränderliche Liebe, nicht auch der Heilige, der über die Sünde und den Sünder zürnt; sondern nur wir haben uns in unseren Gedanken über Gott die ewige Liebe mit den Wolken und Nebeln eigener Vorstellungen verhüllt, so dass wir nur eben von unseren verkehrten Gedanken von Gott erlöst worden sind und Mut gewonnen haben mit Gott in Gemeinschaft zu treten. Darauf ruht nun das Reich Gottes, welches Christus verkündigt und gebracht hat, indem er die Liebe zu den Menschen zu dem unverrückbaren Beweggrund, zur herrschenden Macht seines Lebens gemacht und so seinen Sinn mit dem Sinn Gottes völlig geeint hat. Darin sollen wir ihm nun nachfolgen und in gleichem Sinn dies Reich der Menschenliebe bauen und so Gottes Weltgedanken hinausführen helfen Das ist jenes Reich Gottes: die Gemeinschaft der Menschen, welche die allgemeine Menschenliebe zu ihrem Grund und Band hat. Das ist denn also die wesentliche Bedeutung der Person Christi, darin unser Vorbild zu sein. Alles andere was man sonst zu lehren pflegt: seine ewige Gottheit, Auferstehung, Himmelfahrt usf. kann man dahingestellt sein lassen. […] Da sind dann freilich die Anstöße […] beseitigt und das Christentum dem gewöhnlichen, natürlichen Denken mundgerecht gemacht. Das ist auch die Versöhnung des Christentums mit der modernen Kultur, […] aber um welchen Preis! Um den Preis des Verzichts auf das eigentliche Wesen des Christentums.
[1] Des stellvertretenden Opfers Christi am Kreuz für uns