In dieser Serie wollen wir uns in loser Folge mit exegetischen Themen beschäftigen – Fragen der Bibelauslegung also. Dabei soll u.a. zur Sprache kommen, welche wissenschaftstheoretischen Probleme die Bibelwissenschaft hat. Neben Grundsätzlichem sollen aber auch Einzelbeobachtungen angesprochen werden.
Heute wollen wir einige wenige Beobachtungen zum Umgang der Reformatoren mit der Schrift machen. Dazu sei zunächst gesagt: Keineswegs haben erst die Reformatoren die Schrift entdeckt, keineswegs haben erst sie methodische Überlegungen angestellt, wie die Schrift auszulegen sei. Diese Ansätze finden sich sogar schon in der Schrift selbst und ohne Frage bei den Kirchenvätern. Diese waren für die reformatorischen Entdeckungen zentral – so entdeckte Luther das richtige Verständnis der Rechtfertigung über seine Augustinus-Lektüre. Was ist nun das Neue am reformatorischen Umgang mit der Schrift? Hier ist deutlich zu betonen: In keiner Weise ging es den Reformatoren um eine freie Prüfung der Schrift nach den Maßstäben des lesenden Subjekts:
Luther selbst erkannte den festen Grund des Glaubens gerade außerhalb seiner selbst, außerhalb der historischen Vernunft und außerhalb des römischen Lehramts. Sucht der Mensch die Gewissheit seiner selbst, so verweist ihn Luther auf die Schrift, nicht auf sein Denken. „Eine äußere Realität begründet die innere Gewißheit des Menschen über seine Herkunft und Existenz.“ Dieses externe Fundament fehlte seines Erachtens dem Glauben in der Scholastik.
Stefan Felber, „Hoc est in Christo ad literam factum“ – Realistische Schriftauslegung bei Martin Luther
Autonome Freiheit und Vernunft des Einzelnen im modernen Verständnis spielten für die Reformatoren keine Rolle hinsichtlich der Frage nach der Schriftauslegung. Natürlich haben sie die Mittel ihrer Zeit (des Humanismus) benutzt – Urtext, Wörterbücher, eben alles, was sprachlich zu erhalten war – um den Bibeltext besser zu verstehen. Fokus ihres Arbeitens aber blieb Christus, ihn suchten und fanden sie in der Schrift als ihren Herrn, Erlöser, Seligmacher. Jede menschliche Vernunft dagegen ist gefangengenommen vom Wort der Schrift und dem Bekenntnis. Die Eigenart der reformatorischen Schriftauslegung ist nur, dass sie – möglicherweise noch ein Stück schärfer als zuvor – immer wieder Christus ins Zentrum rückten:
Eine, vielleicht die Eigenart der Exegese vor dem 17. Jahrhundert, soll hier am Beispiel Luthers unter der Bezeichnung ‚realistische Schriftauslegung‘ eingeführt werden. Damit ist zunächst, grob gesagt, gemeint, dass Ausleger vor der Epoche der Aufklärung die heiligen Schriften in der Regel von vornherein im Blick auf die dort verhandelten Sachen, Gestalten und Ereignisse auffassten, statt nur auf der Ebene des Textes zu bleiben. Natürlich unterscheidet Luther Gestalt, Gehalt und Autorität der Texte; an vielen Stellen bemerkt er, dass der Text für die gemeinte Sache nicht einfach luzide ist. Luther kennt philologische Details, führt Parallelstellen an usw., wenngleich er natürlich noch nicht über moderne Wörterbücher und intertextuelle Fragestellungen verfügte oder z. B. konzentrische Strukturen benennen konnte. Er vermeidet jedoch, sich in Nebenfragen zu verlieren. Er zielt auf die große Perspektive, nämlich Kampf und Sieg des Glaubens an Christus. Denn ohne das Zentrum, nämlich Christus, wäre seines Erachtens nichts Relevantes, nichts Lebendigmachendes und kein Trost mehr in der Schrift zu finden. Der Kampf des Glaubens bliebe ohne Sieg. „Tolle Christum e scripturis, quid amplius in illis invenies?“ wandte er gegen Erasmus ein. Vom Zentrum, von der Sonne her, wird die ganze Schrift klar.
Stefan Felber, „Hoc est in Christo ad literam factum“ – Realistische Schriftauslegung bei Martin Luther
Doch woher nimmt die reformatorische Exegese diese Zentralität Christi? Aus der Schrift selbst mit ihrer zentralen Behauptung, dass dies Selbstoffenbarung Gottes in seinem Bund mit Israel und deren Verheißung des Messias auf Christus hindeutete und in ihm erfüllt ist. Er ist es, der stets gemeint war und immer gemeint sein wird.
Hier kommt uns die in der Theorie seit einigen Jahrzehnten im Sattel sitzende Herrschaft des Lesers über den Autor quer. Kurz gesagt, in der literarischen Theorie begreift mancher derzeit einen Text sehr gern fast schon ausschließlich in seiner Rezeption. Das heißt, er ist nur existent in seinem individuellen Begriffenwerden durch den Leser. Und dessen Verständnis des Textes schlägt die Autorenintention. Was jedoch nicht bewusst reflektiert wird ist, dass hiermit alle zwischenmenschliche Kommunikation aufgelöst wird. Der Autor kann dem Leser nichts sagen, denn er hat nichts zu sagen. Eine in jedem Aspekt sinnvollere Herangehensweise stellt zuerst Fragen: Was für ein Buch ist es? Wie versteht es sich selbst? Die objektive Antwort bezüglich der Bibel kann nur lauten: Sie versteht sich als die Aufzeichnung des Handelns Gottes gegenüber den Menschen. Vom alten Testament bis ins Neue Testament. Unter diesem Aspekt ist der messianische Zentralnarrativ der verlorenen Menschheit und des rettenden Christus nicht von der Hand zu weisen. Anders formuliert: die Schrift betet laut und klar die Glaubensbekenntnisse. Und als ein solcher, von außen an das Subjekt herantretender Bericht göttlicher Offenbarung (und damit als diese Offenbarung selbst) wurde sie auch von Luther verstanden. Um dem zu entkommen muss man schon Verschwörungstheorien anbringen. Und Verschwörungstheorien sind vor allem eines: aufregend! Verschollene Evangelien, heimliche Liebschaften Jesu, ein gefakter Kreuzestod, eine Auferstehungslüge der Jünger, ein Gottmenschidee, die einem einfachen Sozialpropheten nur übergestülpt wurde. All dies beschäftigt Wissenschaftler und wird von Wissenschaftlern verlautbart. Jedoch die andere zentrale Eigenschaft von Verschwörungstheorien nicht: sie sind höchst unwahrscheinlich.