In dieser Serie wollen wir uns in loser Folge mit exegetischen Themen beschäftigen – Fragen der Bibelauslegung also. Dabei soll u.a. zur Sprache kommen, welche wissenschaftstheoretischen Probleme die Bibelwissenschaft hat. Neben Grundsätzlichem sollen aber auch Einzelbeobachtungen angesprochen werden. Der folgende Gastbeitrag aus der Feder eines Exegeten bildet den Auftakt einer Reihe zu adventlichen Themen, die exegetische Fragen geradezu provozieren.
Mittlerweile sind die letzten Hemmungen gefallen. Hatte ich den Lebkuchentürmen, die mir seit September im Supermarkt zuzwinkern, bisher noch verbissen widerstanden, habe ich letzte Woche doch endlich nachgegeben. Es ist Advent. Mit jedem Tag wächst die Vorfreude auf Weihnachten, mit ihr wächst mein Schmalzkuchenbauch, meine Toleranz für kitschige Glitzerdeko und die Intensität der Adventslied-Ohrwürmer. Seit dem ersten Adventssonntag 10:03 Uhr dröhnt mir „Macht hoch die Tür“ im Ohr und langsam regt sich der ungute Verdacht, dass ich diese Melodie auch nicht mehr so einfach loswerde. Die Nummer 1 im Evangelischen Gesangbuch ist vielen der Inbegriff des kirchlichen Adventsgefühls und die Inbrunst, mit der die Gemeinde zu viel zu hohen Orgelarrangements Jahr für Jahr derhalben jauchzt, sagt alles.
Was der Gemeinde erst noch erklärt werde muss: Das Lied ist theologisch hoch anrüchig. Denn es spricht doch tatsächlich von Christus – mit Worten des Alten Testaments. Der Vers „Macht hoch die Tür“ stammt aus Psalm 24, in dem es wiederholt heißt: „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!“, und wer dies und den übrigen Psalm liest, wird schnell erkennen, wie Georg Weissel, der Dichter des Liedes, dazu kommt, im Weiteren vom Herrn über alle Welt, Königskronen, dem Ende aller Not und von Gott als tatkräftigem Retter zu singen (weitere Motive, die nicht aus Psalm 24 stammen, dürfte er vor allem aus einem anderen alttestamentlichen Text und seiner Aufnahme in den Evangelien entlehnt haben, nämlich Sacharja 9,9). Damals besang Israel das Kommen seines Gottes im Tempel. Nun, im Advent, soll die Gemeinde sich auf den Einzug ihres Königs vorbereiten, Jesus Christus.
Das Alte Testament auf Christus hin auszulegen hat lange Tradition. Sie beginnt spätestens am Tage der Auferstehung mit Jesus selbst (vgl. etwa Lk 24,27). Die mittelalterliche Theologie, die Werke der Reformatoren, ja bis weit in die Neuzeit hinein ist die christliche Schriftauslegung sich darin einig, Jesus schemenhaft in den Schriften Israels zu erkennen. Luther konnte vom Alten Testament als „die Windeln und die Krippen“ sprechen, „darinnen Christus liegt.“ Insofern ist es nur angemessen, dass diese Lesetradition auch heute noch vor allem in der Advents- und Weihnachtszeit lebendig und sichtbar ist. Die ersten Kapitel unseres Gesangbuchs sind getränkt von alttestamentlicher Sprache und alttestamentlichen Bildern. Seien es aufgerissene Himmel, die Tochter Zion, oder das Reis nach Isais Art. Und auch die prophetischen Weissagungen verteidigen stolz ihren Platz als Predigttexte.
Und doch kann ich trotz der bewahrenden Kraft des Traditionellen nicht umhin, auf diesem Feld inzwischen gewisse Hemmungen festzustellen. Zumindest stellt sich dieses Gefühl bei mir ein, wenn ich in den einschlägigen Portalen durch Advents- und Weihnachtspredigten blättere, die in den letzten Jahren gehalten wurden. Die Übertragung des Alten Testaments auf Christus scheint ein Geschmäckle bekommen zu haben und allem Anschein nach herrscht auf unseren Kanzeln eine zunehmende Scheu, Christus in den prophetischen Verheißungen zu erblicken. Stattdessen finden sich allerlei Mutmaßungen zur historischen Situation ihrer Abfassungszeit, die schulmeisterliche Erklärung, Jesaja habe nie von einer schwangeren Jungfrau, sondern nur von einer jungen Frau gesprochen und überhaupt wird der Gemeinde allerhand Problembewusstsein vermittelt. Was mitunter ganz fehlt ist ein Verweis auf Christus – selbst in der Weihnachtspredigt.
Ein entscheidender Grund für diese Entwicklung wird in der engstirnigen Art historisch-kritischer Bibelauslegung zu finden sein, wie sie an unseren Fakultäten oft auch im 21. Jahrhundert noch fröhliche Urständ feiert. Wer an der Universität die Einführungsveranstaltungen zur Bibelkunde und zur Auslegung des Alten Testaments besucht hat, ist in der Regel mehr als einmal ermahnt worden, „den Herrn Jesus“ getrost zu Hause zu lassen. Der sei ja erst um das Jahr 0 geboren, also habe man 700 Jahre zuvor auch noch nicht von ihm gewusst. Alles andere sei eine unzulässige Vereinnahmung des Textes. Methodisch nicht haltbar, theologisch fahrlässig und überhaupt unwissenschaftlich.
Unter diesen Vorzeichen kommt man fast von selbst zum Fazit des Jerusalemer Propstes Wolfgang Schmidt, Jesajas schwangere Jungfrau habe „soviel mit Weihnachten zu tun, wie ein U-Boot mit einem Segelflieger: So gut wie gar nichts eigentlich.“ Interessanterweise tut der Propst im Folgenden jedoch das, was viele andere so nicht mehr tun: Er schlägt dennoch den Bogen zu Jesus. Nun wird man in dieser Predigt keineswegs jene sogenannte „unzulässige Vereinnahmung des Textes“ finden, aber damit liegt die Frage auf der Hand: Wie will man das eine tun und das andere nicht lassen, Jesus aus dem Alten Testament ausklammern und doch anhand des Alten Testaments von Jesus reden – wie soll dies „methodisch haltbar“ und „wissenschaftlich“ geschehen?
In einer äußerst unappetitlichen Affäre wurde Notger Slenczka, seines Zeichens Professor für Systematische Theologie an der Humboldt-Universität Berlin, vor einiger Zeit medienwirksam als Marcionit angefeindet. Er erkläre aus niederen Motiven und intellektueller Hybris das Alte Testament für wertlos. Wer sich die Mühe gemacht hat seinen Beitrag zum Thema tatsächlich zu lesen, wird sich der Logik Slenczkas jedoch schwerlich entziehen können. Bestimmte hermeneutische Grundentscheidungen der vergangenen Jahrhunderte führen christlicherseits zu einer Bagatellisierung des Alten Testaments. Und so bringt diese Debatte in aller Schärfe die umgekehrte Frage hervor: Wenn wir als Christen überhaupt bedeutsam vom Alten Testament sprechen wollen, wie soll das ohne Christus geschehen?
Aufgabe der Reihe „Widersprüche“ ist es, exegetisch-hermeneutische Trends zu hinterfragen. Bei einem so zentralen Thema wie dem Verhältnis der Schrift zu Jesus Christus, kann dies natürlich nicht umfassend in einigen wenigen Blogbeiträgen geschehen. Trotzdem soll ein erster Schritt in diese Richtung in den kommenden Wochen getan werden. Bis Weihnachten werden wir an dieser Stelle einige Schlagworte aus dem Adventsschlager „Macht hoch die Tür“ zu ihrem Ursprung im Alten Testament verfolgen, theologisch beleuchten und dann neben ihre Verwendung im Neuen Testament stellen. Auf diesem Wege lässt sich weder zeigen, dass Jesaja eine schwangere Jungfrau vor Augen hatte, noch, dass das Alte Testament alternativlos auf Christus zielt. Vielleicht ist dies aber ein erster Schritt, die theologische Tiefe hinter der traditionellen, christologischen Bibelauslegung zu erkennen und falsche Hemmungen abzubauen.