Kaum ein Bereich lutherischer Lehre ist wohl mit so vielen zeitbedingten Veränderungen der Umstände konfrontiert, wie der über das Verhältnis von Kirche und Politik. So gingen die Menschen des 16. Jahrhunderts zum Beispiel meist davon aus, dass auch ihre Obrigkeit christlich sei, ferner, dass es einen Unterschied zwischen ihnen und der Obrigkeit gebe, und dass dieser Unterschied gottgewollt sei. Parlamentarische Demokratie in unserer heutigen Form war kein allgemein verbreitetes Konzept, auch wenn Gewaltenteilung im Heiligen Römischen Reich, besonders auch im lutherischen Bereich durch die Dreiständelehre, durchaus größeres Gewicht hatte, als im späteren absolutistischen Staat nach 1648 oder im zentralistischen französischen Staat. Und doch prägt vor allem eben jener Zentralismus wohl meist unsere Wahrnehmung der früheren Verhältnisse: Der König gibt einen Befehl, und keiner kann sich ihm widersetzen – L’etat c’est moi!. Es bleibt: Während z.B. die Lehre vom Abendmahl, da sie sich grundsätzlich nur an die Gläubigen selbst wendet und im biblischen Befund begründet ist, zwar innerkirchlich umstritten ist, gibt es trotzdem nur eine sehr begrenzte Zahl von möglichen Positionen dazu. Für Umgang mit Gesellschaft und Politik ist die Ausgangslage viel komplexer, wobei man auch vor neue Herausforderungen gestellt werden kann (und dies schon seit eh und je, denn die politischen Verhältnisse haben sich nicht erst seit 1918 gewandelt).
Vor allem seit den Tagen von 1968, aber auch in jüngster Zeit kann man nun (neben dem evangelikal geprägten Gegenstück) immer wieder die Forderung lesen, Kirche müsse politischer werden oder müsse politisch sein, mitunter auch mittels haarsträubender Eisegese – wie z.B. bei diesem Artikel, der mit dem Inhalt der Predigt auf dem Areopag also wirklich nichts zu tun hat. (Es sei denn, man wollte in ein neogermanisch unterwandertes Dorf gehen und dort auf dem Dorfplatz anfangen mit: „Ihr habt einen Gott Odin…“. Man merkt jedoch, dass das nicht wirklich etwas mit Politik zu tun hat.) Allerdings zeigt ein Blick sowohl in die neuere Geschichte, als auch die Wahrnehmung aktueller Ereignisse, dass die Frage der politischen Kirche nicht einfach abgekanzelt werden darf. Die stumm gebliebene Kirche ist eine sündig gewordene Kirche. In den Blick zu rücken ist aber, was lutherisch/biblisch wirklich zu diesem Komplex zu sagen ist und was nicht, was uns denn heute genehm ist.
Dabei ist festzustellen, dass das lutherische Bekenntnis bestimmte Linien zieht und Pflöcke einschlägt, die einen Rahmen ergeben, innerhalb dessen es legitim ist, das Thema Politik in der Kirche zu traktieren. Dieser Rahmen soll im Folgenden (sicherlich unvollständig) skizziert werden.
(1) Christus ist Flucht- und Mittelpunkt des Glaubens, neben ihm gibt es keine anderen Autoritäten. Vor allem nicht Volk, Rasse, Staat.
(2) Christus ist für alle Menschen gestorben. Er ist nicht für ein bestimmtes Volk gestorben.
(3) Weil Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren, haben wir keinen Eigenanteil, den wir einbringen, um Christen zu werden. Weil unsere Werke uns keinen Anteil an der Erlösung bringen, sondern im Gegenteil, solange sie unsere Werke sind, uns nur weiter dem Gesetz unterwerfen, ist es nicht unser Sein, welches uns für das Heil geeignet macht. Also auch nicht unsere Herkunft, Hautfarbe, Bildung, Geschlecht, usw.; vor Christus sind sie irrelevant.
(4) Die Lehre vom dritte Gebrauch des Gesetzes beschreibt nach der Formula Concordiae (VI), dass es keinen Unterschied gibt zwischen erlösten Christen und Unbußfertigen, beiden muss das Gesetz gepredigt werden. Auch erlöste Christen sind Sünder, sie können also keine besseren Ausübenden von Politik sein; Kirche hat nicht per se einen besseren Blick für gesellschaftliche Probleme, Missstände oder deren Beseitigung.
(5) Weiter ist lutherische Lehre (Zwei-Regimenter-Lehre), dass das weltlich-vernünftig erkennbare Recht (zu dessen Aufstellung es nicht nötig ist, Christ zu sein, sondern nur, nach dem zu fragen, was Menschen dient) für beide, Christen und Nichtchristen gelten soll. In einer Gesellschaft, einem Staat, soll also ein verbindendes Recht gelten, und die Ausgestaltung desselben hängt nicht davon ab, ob die Protagonisten der gesellschaftlichen Gemeinschaft Christen sind, Christen sollen sich aber daran beteiligen. – Dieses Recht soll also nicht durch die Kirche der Gesellschaft aufoktroyiert werden. Eine Theokratie ist gerade nicht zu erstreben. Andererseits hat dieses Recht keine Bedeutung für die Vorgänge in der Kirche, sondern diese unterstehen dem göttlichen Recht, also dem Worte Gottes, das das natürliche Recht umfasst, in Teilen, wo es sich aber lediglich mit Tatsachen der gefallenen Schöpfung befasst, aber diesem auch widersprechen kann. Diese Widersprüche gelten dann ausschließlich für die Kirche, nicht für die Politik. Beiden aber, Nichtchristen und Christen, und zwar auch die „erlösten Christen“ aus dem vorherigen Punkt, ist es möglich, gegen das vernünftig erkennbare Recht zu verstoßen, und etwas zu tun, was dem Mitmenschen schadet. Hier muss das staatliche Gebilde, die „Obrigkeit“, die auf Einhaltung des vernünftigen Gesetzes achtet, gegen den Gesetzesverstoß vorgehen. Die Kirche soll die Obrigkeit dabei nicht behindern, sondern sie zu ihrer Aufgabe ermutigen und sie an diese erinnern. Sie soll allerdings nicht diese Aufgabe selbst übernehmen.
Damit ist klar: Der einzelne Christ ist – als Bürger des Staates, in dem er lebt – in die Verantwortung gestellt, die Rechte und Pflichten seines Bürgerstatus auszuüben, also auch, sich politisch einzubringen. Der Obrigkeit Untertan heißt somit, sich am politischen System zu beteiligen, sich ihm nicht zu entziehen, wobei auch gilt: Das Ziel des christlichen Lebens ist, bei aller Anteilnahme an Staat und Gesellschaft, ein ruhiges und stilles Leben in Frömmigkeit zu führen (1. Tim 2,2).Nach dieser Beschreibung scheint das Ziel gerade keine Initiierung einer Revolution zu sein, sondern der alltäglich-mühsame, meist unsichtbare Einsatz für die Armen, Schwachen, Ausgegrenzten ebenso wie für das Gemeinwohl überhaupt.
Die Kirche als solche hat einen ganz anderen Blickpunkt. Sie gestaltet keine Politik, sondern schaut auf Chistus. Von dort aus kann es sein, dass sie politisch Partei im Sinne des Evangeliums ergreift, wenn sie sonst (im Falle des Stummbleibens) das Evangelium verleugnen würde. Das aber ist ihr Wirken und Ziel: Predigt des Evangeliums und Spendung der Sakramente. Wo die politische Stimme der Kirche nicht dem Evangelium dient, muss sie verstummen, wo sie nicht auf Christus verweist, muss sie den Arm zurückziehen. Ihr Engagement übt sie nicht aus, um die Zivilgesellschaft zu stärken – das tut der Einzelne – sondern, um zu verkündigen.
Für die Kirche gilt, wie CA XVI formuliert: „Derhalben sind die Christen schuldig, der Obrigkeit untertan und ihren Geboten gehorsam zu sein in allem, so ohne Sünde geschehen mag; denn so der Obrigkeit Gebot ohne Sünde nicht geschehen mag, soll man Gott mehr gehorsam sein als den Menschen. Apost. 5,29.“ Wo sie durch Schweigen sündig wird, muss sie sprechen, wo nicht, muss sie schweigen.