In Weiterführung unseres Beitrags zu den neuen Evangelikalen und ihrem Schriftverständnis wollen wir heute nochmal einige Aspekte vertiefen. Wie die Überschrift erkennen lässt, geht es uns dabei um den Widerspruch zwischen Selbstaussage und (lutherisch-theologischer!) Realität im Hinblick auf die persönliche Freiheit des Glaubenden.
Wissenschaft ist Selbsthinterfragung
Dazu müssen wir aber zunächst noch etwas weiter graben. Wir greifen die bildliche Beschreibung des neuevangelikalen Schriftverständnisses noch einmal auf:
Für [Postevangelikale] ist – um im Bild zu bleiben – die Bibel kein kunstvoll geschliffener Juwel, dem man keinen Kratzer hinzufügen dürfte, sondern ein Steinbruch, in dem man zahlreiche Edelsteine findet, die es jeweils für das eigene Leben zuzuschleifen gilt. […] Die Edelsteine sind für Progressive ebenso wertvoll wie für Evangelikale die ganze Bibel.
Was hier – sicherlich wider Willen – deutlich wird, ist, wie wenig sich Postevangelikale in ihrem unbewussten Bibelgebrauch von den Evangelikalen unterscheiden. Sie ziehen zum Großteil aus dem Kontext gelöste Bibeltexte zur Untermauerung eigener Ansichten heran. So werden Zitate ausgewählt, die (natürlich nach historisch-kritischer Untersuchung) der eigenen Auffassung entsprechen, und den christlichen Glauben entsprechend eigener Vorstellungen deuten. Ob der Unterschied, einen solchen Steinbruch mit oder ohne der Axt der historisch-kritische Analyse auszuplündern, wirklich so bedeutsam ist, lässt sich fragen. Egal, ob auf diese Weise das Schriftverständnis aus den Parametern der neuen Evangelikalen oder aus den Parametern der „alten“ Evangelikalen gezogen wird, am Ende fußt es auf der persönlichen Überzeugung, welche Aspekte bedeutsam sind. Bei den ‚Neuen‘ mögen die Parameter mehr an aktuellen gesellschaftlichen Fragen, bei den ‚Alten‘ mehr an der Opposition zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten festgemacht werden. Der Vorgang bleibt derselbe. Damit lässt sich auch nachvollziehen, warum ethische Fragen beiden Gruppen so wichtig sind. Das sind nunmal die, die den Alltag und die Erfahrungswelt betreffen und das Verhältnis gegenüber einer Gesellschaft beschreiben, die das Leben fast schon unhinterfragbar materialistisch und epicuräisch begreift.
Das methodische Grundproblem findet sich bei Krüger in einer Formulierung, die eigentlich darauf hinaus will, dass unser Bibellesen (wie alle Auffassung unserer Welt) immer schon von einem Vorverständnis geprägt wird:
Außerdem ist es ja gar nicht möglich, an unserem Verstand vorbei eine Information zu verarbeiten. Wie auch? Der Verstand ist es schließlich, der uns überhaupt erst unsere Welt wahrnehmen und verstehen (!) lässt. Unser Verstand ist geprägt von unseren Erfahrungen und Einstellungen – gleichzeitig ist er es, der neue Informationen verarbeitet. Es gibt keine Neutralität (außer man zwingt sich sehr bewusst und mit großem Willen dazu, was aber auch wieder eine Verstandesleistung ist). Unser Verstand ist immer parteiisch und jede Information, die wir uns aneignen, geht genau durch diesen Filter. Es ist ganz schön gewagt zu behaupten, nur wer die Bibel einfach liest, statt sie mit Verstand zu untersuchen und zu analysieren, könne ihren wahren Inhalt erkennen.
Krüger meint demnach tatsächlich, man könne kraft der Vernunft einen neutralen Zugang zur Bibel erschaffen. Diesen neutralen Zugang meint er dann vermutlich in „der“ „modernen“ Bibelwissenschaft zu finden. Nun mag es wissenschaftstheoretisch so etwas wie einen intersubjektiven Zugang zu Gegenständen geben, also einen Zugang, der auch von einem anderen Menschen verstanden werden kann, selbst wenn er den Zugang (und die Erfahrungswelt, auf der dieser Zugang fußt) nicht teilt. Ein solcher Zugang ist zum Beispiel dann gewährleistet, wenn eine wissenschaftliche Untersuchung sich bestimmter Regeln von Sprache und Logik bedient, ihre Voraussetzungen und ihren Untersuchungsgang offenlegt. So lässt sich intersubjektiv nachvollziehen, wie unter dem Axiom, dass 1+1=2 ist, bestimmte mathematische Formeln entwickelt werden können. Eine Neutralität, also das Nachvollziehen solcher Gesetze ohne die Kenntnis der Voraussetzungen, ist dagegen nicht möglich. Selbiges gilt auch für die Exegese: Werden die Axiome der Untersuchung deutlich gemacht, so sollte eine wissenschaftliche theologische Bibelauslegung so konzipiert sein, dass sie sich verstehen und nachvollziehen lässt, auch wenn man ihre Deutung nicht teilt. Sie lässt sich aber nicht ’neutral‘ betrachten. Ein Vorverständnis bringen sowohl Autorin als auch Leser mit. Auch historisch-kritische Bibelauslegung ist Auslegung unter Vorverständnis. Bibelauslegung geht also nicht ohne Verstand – und kaum ein Ausleger der Kirchengeschichte hat solches außer acht gelassen. Bibelauslegung geht aber auch nicht „verstandesrein“. Es braucht einen Zugang, um zu einem Ergebnis zu kommen. Insofern ist entscheidend, mit welchen Axiomen ich dem Text begegne. Die Axiome müssen dem Untersuchungsgegenstand gerecht werden. Das bedeutet: Jede Untersuchung wird in einem Zirkel vorgenommen, der aus bereits bestehenden Vorannahmen und den Ergebnissen, die dann wieder auf die Vorannahmen einwirken. Oder, wie es in anderem Zusammenhang gut auf den Punkt gebracht wurde: Wissenschaftliches Arbeiten, „so als ob es Gott nicht gäbe“, bedeutet, so zu arbeiten, als wäre ich selbst mein eigener Gott:
Das gilt ursprünglich natürlich eigentlich für Wissenschaft und in besonderer Weise auch für Exegese. Als gäbe es so etwas wie einen „unabhängigen Standpunkt“. „Etsi Deus non daretur“ meint im Grunde nur: „Ich bin selbst Gott.“
— Johannes Brakensiek (@letterus) September 27, 2018
Die richtige Brille und wie man sie kriegt
Aber wir müssen gar nicht so weit gehen. Die Begrenztheit der Vernunft in Glaubensdingen wird – nicht zuerst – schon in den Bekenntnisschriften, u.a. im Großen Katechismus, zum Beispiel im Abschnitt über das Abendmahl, angesprochen:
Aus dem Wort kannst du dein Gewissen stärken und sprechen: Wenn hunderttausend Teufel samt allen Schwärmern herfahren: Wie kann Brot und Wein Christus’ Leib und Blut sein usw. so weiss ich, daß alle Geister und Gelehrten auf einem Haufen nicht so klug sind als die göttliche Majestät im kleinsten Fingerlein. Nun steht hier Christus’ Wort: „Nehmet, esset, das ist mein Leib. Trinket alle daraus, das ist das neü Testament in meinem Blut“ usw. Da bleiben wir bei und wollen sie ansehen, die ihn meistern werden und anders machen, denn er’s geredet hat. Das ist wohl wahr, wenn du das Wort davontust oder ohne Wort ansiehst, so hast du nichts denn lauter Brot und Wein; wenn sie aber dabei bleiben, wie sie sollen und müssen, so ist’s laut derselben wahrhaftig Christus’ Leib und Blut. Denn wie Christus’ Mund redet und spricht, also ist es, als der nicht lügen noch trügen kann.
Das ist die Antwort auf den kritischen Einwand Krügers hinsichtlich der (zumindest behaupteten) Vernunftfeindlichkeit Tills. Gerade wenn wir vernünftig sind (also möglichst genau überlegen), dann betreiben wir unser theologisches Nachdenken vernunftkritisch (also selbstkritisch), weil wir wissen, dass die begrenzte Vernunft, die von so vielen Voraussetzungen abhängig ist, zwar eine unhintergehbare ist (wir ’sind‘ nicht ohne unsere Vernunft), aber eben nicht unser Gott (Apg 5,29). Insofern gilt das kritische Herangehen zuallererst der eigenen vorgefertigten Vernunft, auch den eigenen Erkenntnissen gegenüber dem Text. Und wo sich der Text nicht in mein Weltbild fügt, gilt es, vor dem Zurechtstutzen des Textes den Verstand unter die Lupe zu nehmen. Egal, ob der Text meinem „frommen“, oder meinem „liberalen“ Weltbild nicht entspricht.
Dass das keine einfache Aufgabe ist, die lediglich darin bestände, die Buchstaben der präferierten Bibelausgabe aufzusaugen, liegt auf der Hand. Aber diese Erkenntnis ist keine Erfindung „moderner“ Theologie. Das Wissen um die Bedeutung der genauen Erforschung des Textes und der Worte ist spätestens zur Reformationszeit so präsent gewesen, dass es ein Anhänger der lutherischen Reformation, Matthias Flacius, war, der das bis ins 19. Jahrhundert wichtigste Buch zur Hermeneutik, also der Wissenschaft des Verstehens von Texten, schrieb. Es ist verfehlt, zu behaupten, erst die „moderne“ Theologie habe die Einsicht gehabt, dass man sorgsam mit dem Text umgehen müsse, und erst und nur ihre Erkenntnisse seien ernstzunehmen. Dennoch:
Allein dass sich an den Worten stoßet/ die Absurditas, dass die Vernunft sich darein nicht richten kann/ das ist ja nicht ein genügsame Ursach/ das wir darum von den Worten sollten abweichen. Denn wenn wir uns dadurch wollten von der Schrift lassen abführen/ so würde uns in keiner Anfechtung/ die Schrift nutz können sein. (hier)
Aus lutherisch-biblischer Sicht gibt es für das vernunft- und selbstkritische Lesen der Schrift, welches andere Axiome braucht (dazu dann mehr unten) auch noch einen weiteren Grund, nämlich den incurvatus in se. Den was? Den – Achtung, Überschrift – in sich selbst verkrümmten Menschen. Bitte was? – Den Menschen, wie er ist. Nämlich der, dessen Leben von der Sünde korrumpiert ist:
Weiter wird bei uns gelehrt, daß nach Adams Fall alle Menschen, so natürlich geboren werden, in Sünden empfangen und geboren werden, das ist, daß sie alle von Mutterleibe an voller böser Lust und Neigung sind und keine wahre Gottesfurcht, keinen wahren Glauben an Gott von Natur haben können. (CA II)
Wenn diese Lehre des Luthertums stimmt, und die Voraussetzung dazu folgende ist: „Solche Erbsünde ist so gar eine tiefe, böse Verderbung der Natur, daß sie keine Vernunft nicht kennt, sondern muss aus der Schrift Offenbarung geglaubt werden“ (hier), dann sind alle Handlungen des „Menschen an sich“ Handlungen, die unter dem Einfluss der Sünde geschehen. Ebenso alles Denken, eben alles, was den Menschen ausmacht. Damit wird nicht behauptet, dass das Individuum irgendeine Art von „Schuld“ auf sich geladen hätte, die die Kirche nun nutzt, um das Individuum zu unterdrücken. Nein, Sünde ist etwas anderes als bloße Schuld. Christi Tod, dieTaufe und der Heilige Geist – Gottes Wirken also – sind es, die von dieser Sünde befreien, nicht die Hingabe an die Kirche oder die gute Tat. Unter diesen Umständen gilt aber, dass das vernunftgeleitete Lesen der Schrift nicht nur (a) den Prägungen dieser individuellen Vernunft unterworfen ist (s.o.), sondern auf sich allein gestellt notwendigerweise auch (b) auf sündige, also unfreie und verkehrte Weise liest. Was es braucht, ist eine Lenkung der Vernunft in die richtige Richtung, Inspiration im Wortsinn, das richtige Vorverständnis also. Anders formuliert: Der Verstand hat sowieso eine Brille auf – es kommt also darauf an, die richtige aufzusetzen, bzw. aufgesetzt zu bekommen. Nach luthericher Überzeugung kann diese Brille nur geschenkt werden:
Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten; gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten, einigen Glauben; in welcher Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergibt und am Jüngsten Tage mich und alle Toten auferwecken wird und mir samt allen Gläubigen in Christus ein ewiges Leben geben wird. Das ist gewißlich wahr.
Und nach lutherischer Überzeugung ist sie uns geschenkt, da Gott unseren Glauben durch Mittel bewirkt und stärkt, und zwar durch Wort, Taufe und Abendmahl. Was nun das Wort betrifft, so lässt sich nach lutherischer Überzeugung davon ausgehen, dass die Bekenntnisschriften ein schriftgewirkter und schriftgemäßer Verstehensgrund sind, von dem aus die Schrift betrachtet werden kann. Sie können den fehlbaren Verstand zur Schriftgemäßheit leiten, weil sie das wiederholen, was die Kirche immer schon geglaubt hat (vgl. Vorrede der CA).
Freiheit ohne Inhalt ist Schrödingers Katze in der Kiste
Nach dieser Brille wollen wir nun doch noch einmal den letzten Abschnitt Krügers betrachten:
„Zur Freiheit seid ihr berufen“, schreibt Paulus. Unsere Freiheit ist nichts, was Gott nur duldet, bis wir wieder „nach Hause in seine Arme“ kommen. Im Gegenteil: Freiheit ist das Ziel allen Glaubens. Wer keine Freiheit verspürt, wird von Paulus in Römer 14 sogar mitleidig als „schwach im Glauben“ bezeichnet. Freiheit ist etwas, zu dem uns Gott einlädt, ja geradezu drängt. Das gesamte neue Testament ist ein einziger Ruf zur Freiheit. Freiheit zu erleben ist das wahre „nach Hause kommen“. Denn wo der Geist Gottes ist, da ist Freiheit.
Die Freiheit, die hier beschrieben wird, bleibt eine Hülle, bleibt leer. Welche Freiheit könnte gemeint sein? Wenn wir ins Bekenntnis schauen, so ist der Hauptpunkt, dass Christus „um unserer Seligkeit willen“ Mensch geworden, gestorben und auferstanden ist. Freiheit ist natürlich ein schönes Schlagwort. Doch welche Freiheit ist es, welche nicht? Da sagt unser Bekenntnis:
„Wir bekennen, daß alle Menschen einen freien Willen haben; denn sie haben je alle natürlichen, angebornen Verstand und Vernunft, nicht, daß sie etwas vermögen mit Gott zu handeln, wie, Gott von Herzen zu lieben, zu fürchten; sondern allein in äußerlichen Werken dieses Lebens haben sie Freiheit, Gutes oder Böses zu wählen; Gutes mein ich, das die Natur vermag, wie, auf dem Acker zu arbeiten oder nicht, zu essen, zu trinken, zu einem Freunde zu gehen oder nicht, ein Kleid an- oder auszutun, zu bauen, eine Frau zu nehmen, ein Handwerk zu treiben und dergleichen etwas Nützliches und Gutes zu tun; welches alles doch ohne Gott nicht ist noch bestehet, sondern alles aus ihm und durch ihn ist. Dagegen kann der Mensch auch Böses aus eigener Wahl vornehmen, wie, vor einem Abgott niederzuknieen, einen Totschlag zu tun.“
Die „Lehre von der christlichen Freiheit“ aber ist, „daß die Knechtschaft des Gesetzes nicht nötig ist zur Rechtfertigung“, wie St. Paulus zu den Galatern schreibt im 5. Kapitel: „So bestehet nun in der Freiheit, damit uns Christus befreiet hat, und laßt euch nicht wiederum in das knechtische Joch verknüpfen.“ Insofern ist diese Freiheit keine, zu der Gott einläd. Es ist eine, die Gott erst ermöglicht. Es ist keine, die mich tun lässt, was ich will, denn es „wird gelehrt, daß solcher Glaube gute Früchte und gute Werke bringen soll, und daß man müsse gute Werke tun, allerlei, so Gott geboten hat, um Gottes willen“. Es ist aber eine, die mich vom Zwang und von der Verkehrung der Sünde befreit, von der Verkehrung und Einkrümmung in meine eigene Voraussetzung, meinen eigenen Lebensstandpunkt, meine Vernunft. Diese christliche Freiheit ist auch etwas anderes als das, was Paulus in Röm 14 als „schwach“ bezeichnet. Freiheit bedeutet dort nämlich, einen anderen Christen in „Adiaphora“ seinen christlichen Glauben ausleben zu lassen in der Form, die ihm gut tut und die er für wichtig hält und auszuhalten, dass er einen anderen „Frömmigkeitsstil“ hat. Freiheit meint dort, nicht an die (guten) Taten gebunden zu sein, sondern allein an den Glauben an Christus: Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei. Das ist am Ende der Ruf des Neuen Testaments: der Ruf zu Christus. Von ihm aus ist zu glauben, ist zu leben und ist die Schrift zu lesen.