Ich fand im Bücherschrank eines nahen Verwandten kürzlich eine Ausgabe von „Widerstand und Ergebung“, einem Band, der späte Briefe Dietrich Bonhoeffers sammelt. Sofort wollte ich nach jenem Brief suchen, in dem er von einem „religionslosen Christentum“ spricht, um zu sehen, was Bonhoeffer dort wirklich sagt. Hier folgen nun ein paar Betrachtungen, die sich ausschließlich auf den Inhalt zweier seiner Briefe (30.04.44 und den darauffolgenden) beziehen. Allem wollen wir vorausschicken, dass Bonhoeffer schon lang allein mit seinen Gedanken ist und in einer für uns heute schwer nachzuvollziehenden existenziellen Situation. Das heißt, ihm soll hier in keiner Form irgendwie Schuld zugeschrieben werden, doch ist der Text auf höchste Weise einflussreich geworden und muss beleuchtet werden. Kritik also des Inhalts, nicht der Person (zumal Bonoeffer diese Texte ja vermutlich nicht in der Absicht schrieb, dass sie als evangelische Dogmatik verwendet werden sollten).
Der Zustand der Menschen und der Welt als alles Andere definierendes Axiom
Bonhoeffer beginnt mit Aussagen über die Menschen seiner Zeit. Man kann Menschen nicht mehr mit Worten sagen, was Christentum und Christus „heute für uns“ eigentlich ist. Die Zeit des Gewissens und der Innerlichkeit ist vorbei, daher auch die Zeit der „Religion“[i]. Menschen können nicht mehr religiös sein. All dies sind keine Fragen, sondern Behauptungen und begründen einen Narrativ, der das bisherige christliche Selbstverständnis vollkommen aufheben soll: Das ganze bisherige „Christentum“[ii] ist auf einer falschen Annahme aufgebaut, dem „religiösen Apriori“, das nicht wirklich wahr sondern vergänglich ist. Somit ist der Unglaube, dem Bonhoeffer begegnet, das Zeichen einer tieferen Wahrheit, die sich im Unglauben der Menschen offenbart. Er geht sogar noch weiter und bezeichnet diejenigen, die noch für dieses „Christentum“ offen wären, als „ein paar intellektuell Unredliche“. Ganz anders spricht er in ‚Nachfolge‘, worüber wir schon schrieben. Hier aber setzt er das sinnstiftende Axiom im Handeln der Menschen, das heißt in diesem und eben nicht in der „gesamten 1900jährigen Verkündigung und Theologie” offenbare sich Gott mit letzter Instanz. Doch begegnete Bonhoeffer nicht als einziger jenem Unglauben.
C.S. Lewis erhielt ein paar Jahre vor Bonhoeffers Zeilen die Anfrage, Vorträge über das Christentum für die BBC zu verfassen. Er – der selbst seinen Glauben verloren und über vielfältiges philosophisches und ethisches Nachdenken und Schließen wieder zu diesem zurückgefunden hatte – fasste die von Bonhoeffer beschriebene Situation so auf, dass viele Menschen zwar den Eindruck hätten, das Christentum abgelehnt zu haben, in Wahrheit jedoch waren sie ihm noch nie wirklich begegnet. Bonhoeffers Ende der „Zeit des Gewissens“, dem fehlenden Schuldverständniss der Menschen, begegnet Lewis in seinem Antwortbrief an Dr. Welch von der BBC mit folgenden Worten:
„ Es scheint mir, dass das Neue Testament, mit seiner Predigt von Buße und Vergebung, stets ein Publikum annimmt, das schon an das Naturgesetz glaubt und weiß, dass es dagegen verstoßen hat. Im heutigen England können wir dies derzeit nicht so annehmen und daher setzt die meiste Apologetik zu weit vorn an. Der erste Schritt ist es, das Schuldbewusstsein wieder zu schaffen oder wiederzufinden.“
Lewis steht hier fest in der christlichen Tradition und ihrem Selbstverständnis als Lösung des Grundproblems der Menschheit (nämlich der Erbsünde) und nicht als problematischer metaphysisch-menschlicher Überbau über einem nicht näher definierten „wahren“ Christentum. Wenn wir jetzt aufbegehren und sagen: „Lewis saß nicht unter Nazihaft im Gefängnis, es war ihm ein leichtes in seinem Land so zu schreiben.“, dann haben wir recht, und nähern uns aber doch auch einer anderen Einordnung der Religionslosigkeitsgedanken Bonhoeffers. Denn spricht durch sie nicht Verzweiflung, verschleiert die Isolierung Bonhoeffers ihm nicht die Tatsache, dass er darauf zugeht, am Ende selbst der Prophet des neuen Christentums zu sein? Ein Gedanke, vor dem er, hier bin ich mir sicher, mit Abscheu zurückgezuckt wäre.
Es gäbe noch einiges mehr zu sagen: von Bonhoeffer selbst und seinen Gefühlen als Offenbarungsort (Seite 307), von seiner Kritik an Barth (Seite 312), weil er an der „positiven“, also objektiven, Offenbarung festhält und somit „Jungfrauengeburt, Trinität oder was immer ist […] als Ganzes geschluckt werden muss oder garnicht.“. Aber dies alles ist nicht so wichtig, wenn es sich hier um die Worte eines Angefochtenen und nicht um die eines Propheten des neuen Christentums handelt, wenn wir bewegt werden, für ihn zu beten und nicht ihm nachzufolgen. Das in der Gesellschaft diagnostizierte Fehlen der Erkenntnis eigener Schuld und des gefallenen Zustandes der Welt ist nicht positive göttliche Offenbarung, die alles „Christentum“ auflöst, sondern Verstockung, Offenbarung des heiligen und strafenden Gottes also, welcher nur das gepredigte Wort und der Heilige Geist entgegenwirken kann. Dass etwas mit uns und der Welt nicht stimmt, ist offensichtlich. Die Antwort des Christentums darauf ist seit nunmehr 2000 Jahren dieselbe.
[i] Für den unvorbereiteten Leser ist unklar, wie Bonhoeffer in seinen Überlegungen „Religion“ definiert. Es kann nicht im allgemeingültigen Sinne sein, da er sonst eine religionslose Religion, also ein Oxymoron postulieren würde. Und hier sehen wir ein weiteres Problem: Bonhoeffer kämpft gegen die Sprache selbst und beraubt sich somit der Möglichkeit, zu klaren Ergebnissen zu kommen. Ethymologisch und im Bezug auf einen Hauptgebrauch könnte man den Begriff Religion als die kulturellen und individuellen praktischen Auswirkungen realer oder projizierter göttlicher Selbstoffenbarung definieren. Diese Bedeutung beinhaltet sowohl den Glauben, als auch das aus dem Glauben erwachsende Handeln nicht nur ethischer sondern auch kultischer Natur. Man kann also diesen Begriff nicht ohne eine Kommunikation und Denken extrem erschwerende Umdeutung so verwenden, wie Bonhoeffer es tut.
[ii] Man mag hier einwerfen, Bonhoeffer meine ein falsches Christentum und wir teilten mit ihm das „richtige“ das er aufrichten will. Doch „Christentum“ nach Bonhoeffers Aussage, beinhaltet „Unsere gesamte 1900jährige christliche Verkündigung und Theologie“, dezidiert also z.B. die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse.
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Schöne Überlegungen. Ich würde für ein religionsloses Christentum in dem Sinne plädieren, dass „Religion“ nicht der subjektzentrierte Aufhänger sein kann, von dem die doctrina christiana abhängt. Innerhalb der christlichen Lehre kann man durchaus von Religion sprechen, vorausgesetzt, dass man Religion nicht als Containerbegriff missversteht.
Danke für die Ausführungen! Vermutlich ist der Religionsbegriff immer schon ein wenig missverständlich und problematisch, aber dennoch kommen wir wohl nicht daran vorbei.
ich habe bonhoeffers religionsbegriff immer in relation zu karl barth’s religionsbegriff verstanden, der sinngemäß schrieb, dass religin der versuch des menschen sei, über g–tt zu verfügen – also ein völlig anderer zugang zum thema las bei c.s. lewis, jedoch nicht notwendigerweise ein anderer.
dazu kommt, dass lewis versuchte grundsätzlicher zu schreiben, bonhoeffer jedoch sehr auf seinen historischen kontext reagierte.
es ist also daher schwierig, beide gegeneinander auszuspielen.
Und dennoch kann man ja Barths Überlegungen und die des Bonhoeffers von Widerstand und Ergebung nicht in eins setzen.
(Aus dem Beitrag: „Kritik an Barth (Seite 312), weil er an der „positiven“, also objektiven, Offenbarung festhält und somit „Jungfrauengeburt, Trinität oder was immer ist […] als Ganzes geschluckt werden muss oder garnicht.“.“)