Der folgende Beitrag stellt eine subjektive Meinungsäußerung dar, die nicht die Meinung des gesamten Blogteams wiedergeben muss. Aufgrund verschiedener Rückmeldungen wurde der Beitrag überarbeitet, um die Aussageabsicht zu vereindeutigen. Der Artikel stellt keine Polemik gegen die Ablehnung von Abtreibung dar. Bitte lesen Sie nach dem entsprechenden Absatz einfach weiter.
Über die lutherische Lehre von den beiden Reichen oder Regimentern – letztlich Regierweisen – Gottes haben wir uns schon vor längerer Zeit grundsätzlich geäußert. In diesem Beitrag soll es eher um ein – subjektiv empfundenes – Problem gehen: Ein Zusammentreffen von theologisch „konservativen“ Auffassungen – auch konfessionellen (nicht immer wird da die Trennlinie scharf gezogen) – mit politisch „konservativen“ oder rechtsgerichteten Auffassungen häuft sich deutlich öfter, als ein theologisch-konfessionelles Denken mit politisch eher linksgerichteten Aufassungen. Dieses Zusammentreffen ist u.E. aus der lutherischen/biblischen Lehre heraus nicht begründbar, denn rechte und linke politische Auffassungen sind lediglich eine Meinung, haben aber per se keinen Anspruch auf Christlichkeit. Die „konservative/rechte/bürgerliche“ Meinung wird aber – so die Beobachtung – meist theologisch begründet, z.B.: Es gelte, christliche Politik zu vertreten, und die äußere sich nun mal vor allem in der Familienpolitik, deshalb wähle man Parteien, deren Leitbild die Familie von Vater, Mutter und zwei Kindern sei, so mal die kurze Zusammenfassung.
Nun soll es an dieser Stelle nicht darum gehen, wie berechtigt christlich dieses Familienleitbild überhaupt ist. Die Frage (in Bezug auf dieses Thema, aber auch insgesamt) soll lauten: (Selbst) wenn genanntes Leitbild die christliche Auffassung des idealen Zusammenlebens von Menschen ist, ist es dann Aufgabe des Christen, sich dafür einzusetzen, dass der Staat solche Lebeweisen anderen vorzieht? Wie christlich muss also der Staat sein? Soll man christliche Politik fordern, und was ist unsere Aufgabe als Christen & Kirche in der Gesellschaft? Und letztlich: Was bedeutet das für meine politische Haltung?
Dazu sei noch angemerkt, dass bei der Widergabe von beobachteten politischen Auffassungen einzelner Personen im folgenden auf Quellenangaben verzichten werden wird – es soll nicht um Personen, sondern um Sachen gehen. Außerdem wird versucht werden, weitgehend auf Vorgaben, welche politische Richtung einzuschlagen sei, zu verzichten. Denn, das sollte gleich am Anfang gesagt sein: Dieser Beitrag soll nicht zum Ziel haben, zum Wählen einer bestimmten Partei oder zum Hinwenden zu einer bestimmten politischen Auffassung aufzurufen, sondern eher, möglicherweise festgefahrene Sichtweisen zu reflektieren. In der Hoffnung, dass er dazu genug provoziert, sei noch angemerkt, dass sich dieser Beitrag mehr als alle anderen als subjektive Meinungsäußerung versteht, und auch die politischen Ansichten derjenigen, die die Beiträge dieses Blogs schreiben, erheblich differieren können – jeder andere Autor also diesen Beitrag ganz anders schreiben könnte. Nun aber genug der vorsichtig werbenden Zurückhaltung, gehen wir zur Sache über:
Um zu der zu kommen, wenden wir unseren Blick weit weg, in die USA, auf dass wir mit möglichst neutralen Themen beginnen: Wie die „Zeit“ dieser Tage darstellte, äußert sich in Amerika gerade ein „Kulturkampf“ in massiven politischen Aktivitäten, bzgl. des Abtreibungsrechts, einerseits (vor allem) der Evangelikalen der USA, Abtreibungen möglichst umfassend zu verbieten, andererseits der „liberal-progressiven Kräfte“, das Abtreibungsrecht gänzlich zu liberalisieren, heißt, Abtreibung bis zur letzten Sekunde möglich zu machen. Um des politischen Erfolgs des eigenen Ziels willen wurde dabei wohl von den Evangelikalen ein Gesetz so radikal wie nur möglich verabschiedet – auch „Minderjährigkeit der Schwangeren, Vergewaltigung oder Inzest als Schwangerschaftsursache“ sind dort nun kein Grund mehr, eine Abtreibung legitim durchzuführen. Und das nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern, damit letztlich einmal ein Verbot der Abtreibung in der gesamten USA möglich werden kann. Interessanterweise schreibt der Artikel dann auf seiner zweiten Seite, dass die urspr. ebenso gegen Abtreibung engagierten Katholiken zurückhaltender seien – u.a. deshalb, weil sie auch soziale Aspekte im Blick hätten: „Die Katholiken setzen sich neben dem „Schutz des Lebens“ traditionell auch für staatliche Wohlfahrt und eine Stärkung des sozialen Netzes in den USA ein. Die inzwischen weitgehend mit Evangelikalen verschmolzene republikanische Rechte lehnt dagegen Staat und Steuern nicht zuletzt als Mechanismen für die Unterstützung von Minderheiten radikal ab.“ Wir können und wollen den Artikel hier nicht auf die Frage überprüfen, ob er die Gemengelage in den USA richtig darstellt (und wie der Artikel selber schreibt, gibt es natürlich auch Evangelikale anderer Auffassung, [und: der Artikel und auch das Zitat müssen nicht unsere Meinung widergeben, Nachtrag war offenbar nötig]), auf folgende Beobachtung kommt es uns an:
Der evangelikale Kampf gegen Abtreibungen in den USA verliert offenbar seine eigene Verhältnismäßigkeit völlig aus dem Blick, insofern alle anderen christlichen Werte zugunsten dieser einen Thematik aufgegeben werden, ja man sich teilweis explizit gegen sie einsetzt.
Der Kampf gegen Abtreibung ist also nicht das, was wir kritisieren wollen, wir wollen nur kritisieren, wenn nur Abtreibung, nicht aber sonstige Ungerechtigkeit bekämpft wird.
Hinsichtlich der amerikanischen Evangelikalen, soweit sie im zitierten Beitrag beschrieben werden, taucht der Eindruck auf, ihnen sei der Kampf gegen Abtreibung die einzige wichtige und legitime Form des christlichen Einsatzes gegen Ungerechtigkeit. Ist es denn auch christlicher Sicht wirklich wichtiger, sich gegen Abtreibungen einzusetzen, als gegen andere soziale Gerechtigkeit, anderen Schutz der Schwachen, ökologische Verantwortung, usw.? Sind das nicht alles wichtige Gebiete, auf denen sich Christen einsetzen sollten? Wer die Propheten des Alten Testaments liest, wer die Evangelien liest, wer Paulus liest, muss, so meinen wir, sagen: ja, christlicher Gerechtigkeitseinsatz soll nicht beim Schutz des ungeborenen Lebens stehenbleiben, sondern auch andere Dinge im Blick haben: Sie sind alle wichtig. Das heißt also nicht (um es nochmals deutlich zu sagen), dass der Einsatz gegen Abtreibung falsch wäre, so wollen wir nicht verstanden werden. Uns kommt es auf folgende Differenzierung an: Das eine auf Kosten des anderen tun, Ungerechtigkeit hinzunehmen, um Sexualmoral zu gewährleisten, ist nicht christlich. Es geht also nicht darum, jetzt nicht mehr gegen Abtreibung sein zu dürfen, sondern, sowohl gegen Abtreibung als auch gegen das Andere sein zu sollen. – Es ist gleich wichtig: Einsatz für soziale Gerechtigkeit umfasst Einsatz gegen Abtreibung ebenso, wie Einsatz für Arme, Flüchtlinge, Ausgegrenzte, usw. Also: Christlicher Einsatz gegen Abtreibung ist richtig. Er wird nur dann unrichtig, und diese Pointe bleibt jetzt dennoch mal stehen, wenn es keinen christlichen Einsatz gegen jegliche andere Ungerechtigkeit gibt. So, wie es eben oben der Artikel im Falle der amerikanischen Evangelikalen darstellt.
Und bevor jetzt jemand meint, naja, Gerechtigkeitsthemen, die waren im 1. Jh. nach Christus wichtig, aber seitdem das Christentum die gesellschaftliche Kultur maßgeblich beeinflussen konnte, ist das vorbei, weisen wir darauf hin, dass das ja nicht bei Paulus aufhört: Wie die Kirche immer wieder, so haben auch die Reformatoren, Luther, aber auch ihre Nachfolger des 17. Jh. usf., immer wieder gegen soziale Ungerechtigkeit protestiert, das Recht der Schwachen vor den Fürsten dieser Welt verteidigt, und gemeinsame Sache mit „dem gemeinen Mann“ gemacht. (Oft genug waren Pfarrer und Christen auch blind auf diesem Auge, keine Frage. Aber es ist eben nicht so, als seien diese Themen eine Erfindung der EKD von 1985.) Und es ist auch nicht so, als gäbe es heute in Deutschland keine formen von Armut oder Ungerechtigkeit mehr. Wer diesen eindruck hat, sollte vllt. einmal auf die Straße gehen.
Woran liegt es also, dass „fromme“ Christen, evangelikale, aber auch konfessionelle, sich so oft gegen soziale Gesetzgebung einsetzen oder ihr gleichgültig gegenüberstehen? – Natürlich wird es nicht den einen Grund geben, aber folgende Aspekte scheinen uns auf jeden Fall eine Rolle zu spielen:
- Die, die das Thema vertreten, vertreten auch Themen, die unchristlich sind: Weil die Grünen neben dem Umweltschutz sich auch für andere Leitbilder als das der klassisch-bürgerlichen Familie des 19./20. Jh. einsetzen, ist auch ihr Einsatz für Umweltschutz suspekt, und nicht als Vorbild anzuerkennen. Das lässt sich weiter wunderbar an unterschiedlichsten Beispielen exerzieren: Kapitalismus ist deshalb richtig, weil Sozialismus falsch ist, weil die DDR sozialistisch war, und die war ja auch antichristlich. Die soziale Bewegung des 19. Jh. war in weiten Teilen unkirchlich, also ist soziale Bewegung unkirchlich. Die EKD setzt sich in irgendeiner Form für Flüchtlingsrettung ein, also muss das falsch sein.
- Die, die unsozial sind, nennen sich Christen, also müssen sie recht haben: Es ist doch die CDU, und da sind so viele gute Leute dabei (mag ja wirklich sein!), da ist das doch egal, dass sie auch Waffen in Krisengebiete exportieren – macht ja sonst eh nur jemand anderes (außerdem sind die unchristlichen Sozialisten gegen Waffenexporte![s.o.]). Trump ist auch schonmal in eine Kirche hineingelaufen. Die AfD redet vom christlichen Abendland, und gegen uns haben sie noch nie was gesagt, nur gegen die hässliche EKD.
So oder ähnlich könnten die Gedankenspiele sein, die im- oder explizit hinter dem Verhalten der „Frommen“ stehen. Das Skizzierte sind nur einige Möglichkeiten. Insgesamt wagen wir das Fazit, dass Fromme – auch aus Bequemlichkeit – z.T. nur sehr eingeschränkt über die politischen Gegebenheiten ihrer Gesellschaft nachdenken, und oft lieber die Rhetorik nachplappern, die Ihnen von einigen – mitunter sehr vermögenden Menschen – vorgegeben wird.
Das Ganze ist, und damit lassen wir uns kurz einen weißen Bart wachsen und werden zum Geschichtenopa, nichts Neues: Die Gleichsetzung fromm/konfessionell und konservativ/unsozial, sie ist spätestens mit dem Aufkommen der sozialen Parteien, im 2. dt. Kaiserreich also, entstanden. Die AELKZ, also die lutherische Kirchenzeitung der Zeit schlechthin, schrieb bereits 1878 gegen eine befürchtete revolutionäre Katastrophe, sollte es zu einer anderen Sozialgesetzgebung kommen als einer, die einen christlichen Staat begründen würde. Dabei wurden auch gleich Presse und Zeitgeist als Hauptgegner benannt. Aufgrund der politischen Niederlage gegen die liberaleren Kräfte des Kaiserreichs bei der Verabschiedung einer Sozialgesetzgebung, die im Grunde eine Vermischung von Staat und Kirche erbracht hätte, sah man dann die Notwendigkeit gekommen, neue Kräfte aus der programmatischen Übernahme der Positionen der radikalen Antisemiten zu schöpfen. So verurteilte man 1892 Beiträge, die sich gegen antisemitische Tendenzen stellten, weil sie es erschwere, das Programm der Extremrechten als eigenes darzustellen, und ihnen so Stimmen abzugraben (trotz Hoffnungen der Kirchenzeitung, dass jene Bewegung in den konservativen Kräften aufgehen und bald Geschichte sein werde, nahm diese an politischem Einfluss im Laufe der Zeit eher zu). Je mehr also die Gesellschaft in den 1870er bis 90er Jahren sich liberalisierte, desto mehr positionierte sich die AELKZ im rechten, schließlich antisemitischen Bereich. Zugleich wandte man sich von sozialen Strömungen innerhalb der Kirche ab, weil deren Protagonisten Affinitäten gegenüber der Sozialdemokratie erkennen ließen. Das heißt: Anfangs ging man davon aus, dass das Christentum die Grundlage sein müsste für eine sinnvolle Verfassung der öffentlichen Verhältnisse, eine Abgrenzung der beiden Gebiete Staat und Kirche wurde da nicht gefordert, wo man einen „christlichen Staat“ erhoffen konnte. Aber sobald andere politische Positionen die Mehrheit fanden, forderte man eine strikte Trennung von gesellschaftlichen und kirchlichen Bereichen. Und diese Forderung bedeutete vor allem, man behauptete, diese Form der Sozialgesetzgebung könne nicht wahrhaft christlich sein, Religion und Sozialpolitik lägen auf verschiedenen Feldern, das eine könne mit dem anderen nicht zusammenwirken: „Wir können nicht genug warnen, im Namen des Evangeliums sich allzusehr mit Dingen zu befassen, die nun einmal nicht in das Gebiet des Evangeliums gehören.“ (S. 318) Gleichzeitig äußerte man Verständnis für die Interessen der Großgrundbesitzer und Unternehmer, man wandte sich gegen Erbschafts- und Reichensteuer aus Angst, damit die wirtschaftliche Kraft Deutschlands auf einen Schlage zu vernichten, ja man behauptete, im Evangelium werde gerade der Reiche geehrt, nicht der Arme, müsse der Knecht dem Reichen dienen, gebe es keinen Tadel ggü. Reichtum. Man wandte sich gegen Arbeiterschutzgesetzgebung und äußerte mit der Begründung, dass sein Reich nicht von dieser Welt ist die Ansicht, Jesus selbst sei nie auf soziale Aspekte eingegangen. (alles aus: Uwe Rieske-Braun, Zwei-Reiche-Lehre und christlicher Staat)
Auch schon von 150 Jahren also lehnte man soziale Aspekte ab, weil die Falschen sie vertraten, und machte gemeinsame Sache mit Reichen, die in Reichtum und Machtanhäufung erstickten, weil sie das Gegenteil der Falschen vertraten. Obwohl man nun denken könnte, das Luthertum habe aus seiner unrühmlichen Geschichte gelernt (und ja auch tatsächlich Gründe finden kann, warum man Ende des 19. Jh. Obrigkeits- und Elitenhörig war, also die Protagonisten in ihrer Zeit in ihren Entscheidungen verstehen, wenn auch nicht nachvollziehen kann, während selbige Gründe heute längst weggefallen sind), so zeigt sich doch, dass sich wenig an den grundsätzlichen Aspekten verändert hat. Die Parallelen sind zu eindeutig, um übersehen zu werden, und nur mit Glück findet man innerhalb der Konservativen noch wenigstens so viel Verstand, sich nicht Parteien anzudienen, deren Mitglieder eindeutig antisemitische Tendenzen vertreten.
Aber ein Schritt zurück. Ist unsere Demokratie christlich? – Das ist sie natürlich nicht, insofern gesehen, dass sie auch ganz atheistisch praktiziert werden kann. Aber entspricht sie dem, was sich ein Christ für die Gesellschaft, in der er lebt, nur wünschen kann? – Da kann man dann doch viel eher zustimmen. Auch wenn Bibel & Bekenntnisschriften jeweils in eher monarchisch geprägten Zeiten enstanden (was man im Falle des 16. h. allerdings doch sehr relativieren muss) und deshalb von König und Kaiser sprechen, heißt das nicht, dass König und Kaiser bekenntnis- und schriftgemäßer seien. Tatsächlich gibt es ja keine biblische Vorgabe, welches gesellschaftliche System besonders christlich sei (außer vllt. die Ablehnung des Königtums bei Samuel …). Würde man vor die Wahl gestellt, so müsste man also fragen: welches System dient der Notwendigkeit der politischen Ordnung, wie sie die Zwei-Regimenter-Lehre begründet, besser, also Erhaltung des Friedens, der Wohlfahrt, der Ermöglichung eines sicheren Lebens, in dem das Evangelium möglichst gut verkündigt werden kann? Das ist ein weites Feld, aber zum Beispiel wäre hier auf die Macht der Sünde bezugnehmend zu sagen: Auch die Ausübung von Macht ist in der gefallenen Welt nur unter Sünde möglich (weshalb es ja auch keinen Idealzustand unserer Gesellschaft geben kann) – deshalb ist die Teilung der Macht gut, schützt sie doch dafür, dass eine Partei uneingeschränkt regieren kann. Die Sünde des Einen wird beschränkt durch die Sünde der anderen, könnte man ganz stark verkürzt wohl sagen. Demokratie ist also nicht unchristlich, sie widerspricht nicht dem, was Christ & Kirche sich wünschen können, worin sie leben dürfen. So soll es ja auch, das sei als Nebenbemerkung gestattet, in der Kirche sein: Die gesamte Gemeinde soll Entscheidungen treffen. Aus solchen Überlegungen resultierte im Übrigen die sogenannte Dreiständelehre des 16. u. 17. Jh. – Geistlichkeit, weltliche Macht und Bürgertum sollten einen Kompromiss aushandeln, nicht einer allein entscheiden. Erst mit dem Absolutismus hat nur noch der König entschieden, wo es langging (dass in Lehrfragen natürlich letztlich nur die Schrift gilt, das Verhältnis hier ein anderes ist, sollte klar sein, und ist ein anderes Feld).
Nun haben wir ja aber keine Wahl, sondern leben schon in einem System. Sollen wir einen Umsturz dieses Systems mehr wünschen, als vor 110 Jahren? – Nein: Unsere „Obrigkeit“ (so biblischer und bekenntnismäßiger Sprachgebrauch) heißt Demokratie. Sie ist die Regierweise Gottes, durch die er uns Frieden, Gerechtigkeit und Wohlfahrt gibt – und ihr sollen wir gehorsam sein (heißt, sich demokratisch zu beteiligen), nicht aber sie verachten. Widerstand wäre erst dann angemessen, wenn sie uns das Evangelium nicht verkündigen ließe. Doch dazu haben wir heutzutage wohl mehr Freiheit denn je und ist vor allem die Gefahr des Verbots in jedem anderen System viel größer als in einem, welches solche Grundgesetze und Menschenrechte wie die unsrigen hat. Dass dabei diese „Obrigkeit“ nicht immer Entscheidungen trifft, die völlig der christlichen Auffassung entsprechen – geschenkt. Das war nie anders, und entspricht auch nicht der Lehre vom weltlichen Regiment. Das weltliche Regiment muss nicht christlich gestaltet sein, sondern soll sich am Wohlergehen der Menschen orientieren. Deshalb braucht es weder christliche Gesetze, noch christliche Richter, noch christliche Regierenden, es braucht noch nicht einmal den Erhalt des derzeitig gegebenen. Alles, worauf es ankommt, ist, dass sie uns nicht verbieten, dass wir in unseren Kirchen predigen können. Was wir dann aus dieser Predigt machen – das ist Aufgabe der Kirche, und damit die andere Seite der Regierweise Gottes. Oder, wie in folgenden schönen Worten Luther es sagt:
Wenn nun dein Fürst oder weltlicher Herr dir gebietet, es mit dem Papst zu halten, so oder so zu glauben, oder dir bestimmte Bücher verbietet, so sollst du sagen: ‘Es gebührt Lucifer nicht, neben Gott zů sitzen. Lieber Herr, ich bin euch schuldig zů gehorchen mit Leib und Gut, gebietet mir nach dem Maß eurer Gewalt auf Erden, so will ich folgen. Zwingt ihr mich aber, Glauben und Bücher abzulegen, so will ich nicht gehorchen. Denn dann seid ihr ein Tyrann und greift zu hoch, gebietet, wo ihr weder Recht noch Macht dazu habt.’ Nimmt er dir deshalb dein Gut und bestraft dich als ungehorsam, selig bist du, danke Gott, dass du würdig bist, um des Wortes Gottes willen zu leiden, lass den Narren nur toben. Er wird seinen Richter wohl finden. Denn ich sage dir, wo du ihm nicht widersprichst und gibst ihm Raum, das er dir den Glauben oder die Bücher nimmt, so hast du wahrlich Gott verleugnet.
WA 11, 267, 1-13
Das heißt auch: Wenn es Gott gefällt, dann geht eben alles dahin, was wir haben – aber das soll uns nicht Angst machen, uns nicht ungerecht machen, nicht engherzig oder zögernd, anderen zu helfen.
Ist Widerstand also unmöglich? – Nein. Auch dazu nochmal Luther:
Wenn denn ein Fürst Unrecht hätte, ist ihm sein Volk auch schuldig, zu folgen? Antwort: Nein. Denn wider Recht gebührt niemand zu tun, sondern man muß Gott (der das Recht haben will) mehr gehorchen als den Menschen.
WA 11, 277, 28-278, 12
Dass man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen ist eben die Aufforderung des Neuen Testaments an unseren Glauben. Das galt zu allen Zeiten. Und wenn man sich die Gesetze des AT und die Worte Jesu anschaut, geht es doch immer darum, Schwache zu schützen, Armen zu helfen, Fremde anzunehmen, etc, oder, um es mit Matthäus zu sagen: „Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.“ Das alles gilt der christlichen Gemeinde als Auftrag, auch wenn davon nicht das Heil abhängt. Denn die Werke folgen dem Glauben nach (Konkordienformel, IV, Von guten Werken). Aber die Werke folgen eben auch dem Glauben, sie können also nicht wegfallen, und sie sind für meinen Nächsten da. Und wer mein Nächster ist, wird ja auch schon im NT beantwortet: Im Zweifelsfall der andersgläubige, ausgeraubte Fremde. Deshalb soll nicht sein Glaube übernommen werden, nein, das nicht. Nur unsere Nächstenliebe, die muss ihm gelten. Das bedeutet auch: Das weltliche Reich kann ohne Zweifel und Probleme eine kapitalistische Gesellschaft sein, eine sozialistische, oder eine gänzlich andere. Das alles ist möglich und unerheblich, solange nur gepredigt werden darf. Aber jede dieser Formen wird vom Christen immer erfordern, dass er den Auftrag Christi, seinen Nächsten zu lieben, erfüllt. Es wird immer Übersehene geben, denen die kirchliche Hilfe gelten muss. Es gibt also keine Gesellschaftsform, in der die Kirche ihren Auftrag zur Diakonie vergessen könnte, oder in dem der einzelne Christ es für unnötig halten könnte, essen zu geben, zu trinken zu geben, aufzunehmen, zu kleiden, zu besuchen, zu den Menschen zu kommen. Nicht weil sein Heil davon abhinge, nicht, weil die Kirche dadurch gesellschaftlichen Einfluss gewönne, sondern weil es die Weitergabe von Gottes Liebe ist, die sie selbst erfahren hat. Ähnlich ist es übrigens bei Jesus: Er hat nicht die Römer vertrieben, keine Krankenkasse eingeführt, keine Straße gebaut und auch die Sklaverei nicht abgeschafft. Aber er hat Kranke geheilt, mit gesellschaftlich Ausgegrenzten gegessen, Feinde geliebt und vieles mehr. Nun sind wir nicht Jesus, klar. Aber seine Warnung vor dem, der der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott, die gilt, genauso wie sein Auftrag, „wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.“
Als Christ im Reich der Welt (also außerhalb der Kirche) zu sein, bedeutet also, und damit kommen wir für heute zum Schluss, weit mehr, als sich gegen Abtreibung und für Vater-Mutter-Kind-Kind einzusetzen. Es bedeutet zunächst, dieses Reich erst einmal anzuerkennen und es zu achten. Es bedeutet weiterhin, zu Wohlergehen dieses Reiches beizutragen, und sich für die Erfüllung des Zweckes, den dieses Reich hat, einzusetzen, nämlich dass es den Menschen dient. In solchem Sinne liegt auch die Bedeutung unserer Werke, die wir tun. Ist es also christlich, sich gegen unbeschränkte Abtreibung einzusetzen? – Ja, schon. Aber nur, wenn ich mich auch für andere Formen der Ungerechtigkeit einsetze. In Abwandlung eines Diktums des Heiligen aller Fraktionen der Evangelischen Kirche: Nur wer für die Armen schreit, darf auch über Abtreibung singen.
Du widersprichst den Aussagen des Beitrags, gehst völlig konträr, und hältst ihn für nicht mit der lutherischen Lehre vereinbar? – Wir freuen uns über Kommentare, veröffentlichen aber auch gern Artikel, die das Problem ganz anders betrachten. Ganz im Sinne des Streits der Meinungen. Kontakt ist über die Kommentare oder z.B. hier möglich.
Was für ein schrecklicher Artikel, der alles mit allem vermengt: Abtreibung ist immer Tötung werdenden Lebens und niemals rechtens sondern unter Umständen straffrei. Die Jonglage mit Regierweisen und politischen Präferenzen ist in dieser Frage eine Zumutung!
Ach vielen Dank für Ihre Rückmeldung. Der Artikel lehnt nun allerdings Kritik an Abtreibung gar nicht ab. Also, vllt. ist ja das Lesen eine Zumutung, vllt. ist es auch schlecht geschrieben, aber nur wenn Sie zeigen können, wo der Artikel (und nicht etwas, was der Artikel zitiert) Abtreibung befürworte, sollten wir an dieser Stelle weiterreden. Wie Sie weiter sehen können, wird die Jonglage der Regierweisen auch nicht auf Abtreibung zurückgeführt.
Eine hochmütige Antwort mit hingetupfter Unterstellung („vllt. ist ja das Lesen eine Zumutung“). Ich möchte die Frage der Abtreibung aus solchen und anderen Gesprächsgängen heraushalten, weil es sich um eine objektive Wahrheit handelt: Abtreibung ist Tötung werdenden Lebens und damit immer Unrecht, gehört also nicht in die von Ihnen verhandelten Zusammenhänge. Die menschliche Not und Verzweiflung einer werdenden Mutter kann das Unrecht straffrei stellen, es bleibt aber Unrecht. Manchmal ist „lutherischesweinen“ angebracht!
Tötung ist Unrecht, aber Ungerechtsein ist auch Unrecht. Im Artikel ist m.E. nirgendwo eine Relativierung der Abtreibungskritik zu finden. Ihrer Antwort muss ich unterstellen, dass Ihrer Ansicht nach Abtreibung ein größeres Unrecht sei, als der Verstoß gegen andere christliche Werte, bzw., dass man über den Verstoß gegen die anderen Dinge verhandeln könnte, über Abtreibung aber nicht. Man kann über alle nicht verhandeln (und muss dabei akzeptieren, dass ein Großteil unserer Gesellschaft nichtchristlich ist, man mit diesen also doch verhandeln muss). Weinen ist bei allem Unrecht angebracht.
Mich stört Ihr auch („Ungerechtsein ist auch Unrecht“), jedes Problem hat ein Recht konkret an der ihm eigenen Stelle mit dem ihm eigenen Gewicht verhandelt zu werden. Nicht hinnehmbar ist für mich die Abtreibungskritik, weil sie voraussetzt, es gäbe hier etwas zu verhandeln, als stünde das Recht auf Abtreibung, uns Menschen zu und es müsse gute Gründe geben, dieses Recht zu verweigern. Abtreibung ist nicht zu kritisieren, sie ist abzulehnen.
Wie Sie im Artikel lesen können, gibt es an keiner Stelle des Artikels eine Ablehnung jeglicher Form von Ablehnung von Abtreibung. OB Sie das nun Kritik oder Ablehnung nennen, nirgendwo im Artikel wird Abtreibung befürwortet. Wenn Sie mein „auch“ stört, sind wir viel eher an des Pudels Kern. Warum stört es Sie denn, dass sich Christen gegen Abtreibung, aber auch gegen andere Ungerechtigkeit einsetzen sollen? „jedes Problem hat ein Recht konkret an der ihm eigenen Stelle mit dem ihm eigenen Gewicht verhandelt zu werden“ – und hier im Artikel wird eben jenes Problem behandelt, dass gewisse Christen zwar gegen Abtreibung sind, sonstiges Unrecht aber gut und gern akzeptieren (damit behaupte ich hier nicht, dass Sie unter diese Christen fallen. Ich hoffe, dass ist klar). Dass ein Christ sich neben vielen anderen Dingen, die er tun muss, auch für soetwas wie soziale Gerechtigkeit einzusetzen hat, ist das Problem, welches in diesem Artikel verhandelt wird. Also, warum stört Sie das „auch“?
Zunächst vielen Dank für den durchaus informativen Artikel und die Mühe! Einige Gedanken kenne ich, eher evangelikal-reformiert geprägter Christ von mir selbst gut (Weil A schlecht ist, und B das Gegenteil von A ist, muss B gut sein.) Nichtsdestotrotz bin ich anderer Meinung, die ich versuche stichpunktartig, und keinesfalls vollständig zusammenzufassen.
1. Ausgangspunkt ist die USA mit ihrem politischen System und ihrer religiösen/evangelikalen Landschaft. Das kann man nicht mit der „evangelikalen Szene“ in Deutschland gleichsetzen und mit einer speziell konfessionell-lutherischen Theologie dekonstruieren.
Daraus folgt
2. Dass ich auch deine Beobachtungen nicht teilen kann. Viele Evangelikale, die ich in meinem Umfeld kenne, haben – was die politische Ethik betrifft – ausschließlich im Bereich von Sexualmoral/Abtreibung konservative Ansichten. Sonst achten viele auf faire/biologische Ernährung, kümmern sich zum Teil um Flüchtlinge/Migranten, unterstützen soagar z.T. die „Seenotrettung“ etc. Meiner Meinung läuft die Entwicklung sogar dahin, dass politisch konservative Ansichten immer mehr von theologisch konservativen entkoppelt werden – was ich für bedenklich halte, weil dann so der christliche Glaube verändert wird. Der christliche Glaube wird in meinen Augen immer mehr zu einer humanistischen Zivilreligion – so schreiben es auch andere konservative Christen (z.B. IKBG). Allgemeine ethische Forderungen des Mainstreams werden einseitig (schein) christlich legitimiert (betrifft insbes. Klimawandel und Flüchtlingsthematik.)
3. Schreibst du „Das weltliche Reich kann ohne Zweifel und Probleme eine kapitalistische Gesellschaft sein, eine sozialistische, oder eine gänzlich andere. Das alles ist möglich und unerheblich, solange nur gepredigt werden darf.“ Das ist sicher nicht falsch, aber im realen Sozialismus war und ist die Verkündigung immer schwerer als im Kapitalismus mitteuropäischer (sozialmarktwirtschaftlicher Prägung). Dies war zu DDR-Zeiten so, und war erst recht in der Sowjetunion so, sowie im heutigen Nordkorea etc, Auch wenn das „weltliche System“ eines konkreten Landes ein islamischer Gottesstaat wäre, dann wäre christliche Verkündigung praktisch unmöglich. (Dem wäre nicht nur so dem ist so!) Deswegen sehe ich auch als Christenmensch meine Verantwortung darin, vor Einfluss des politischen Islam und sozialistischer Ideen zu warnen und darüber aufzuklären. Leider ist es so, das Genanntes von allen politischen Parteien links der Mitte zunehmend vertreten (Sozialismus) oder relativiert (Einfluss politischen Islams) wird. Deswegen neige ich konservativen Parteien eher zu.
Vielen Dank für die ausführliche und differenzierte Rückmeldung!
Meine Rückmeldung zu den Anmerkungen:
zu 1) stimme vollkommen zu, dass es keine direkte Verbindung gibt. Die Überlegung war eher: Falls Leute genau so denken – und so habe ich es an bestimmten Stellen wahrgenommen – dann liegen diese Leute m.E. falsch. Das bedeutet aber nicht, dass die konfessionellen Lutheraner als Kirche insgesamt so denken. Völlige zustimmung!
zu 2) freut es mich, wenn es auch solche Haltungen gibt. Zu fragen, bevor die jeweilige politische Auffassung kritisert wird, ist ja, aus welcher Motivation heraus die Haltung eingenommen wird. Also: sind diese Evangelikalen einer „humanistischen Zivilreligion“ auf den Leim gegangen, oder folgen ihre politischen Auffassungen ihrem Glauben und den aus dem Glauben fließenden Werken? Vllt sind ja allgemeine ethische Forderungen des Mainstreams gar nicht so unchristlich? Wie gesagt, hier kommt es auf Seiten der Kirche und der Christen auf ihre Motivation an, warum sie diese Forderungen teilen. Als problematisch erachte ich sie nicht, dazu müsste man zunächst nachweisen, dass die allgemeinen ethischen Forderungen des Mainstreams falsch lägen (weltlich) oder dem christlichen Glauben diametral widersprechen (kirchlich). Das sehe ich nicht bei allen diesen Forderungen erfüllt, besonders nicht hinsichtlich Klimawandel und Flüchtlingsthematik. Vor allem aber verstehe ich nicht, warum ein differenzierter Umgang mit politischen und religiösen Auffassungen problematisch sein sollte: also, was christlich konservativ bedeutet, ist ja nicht dasselbe, wie, was politisch konservativ bedeutet. M.E. ist das ein Trugschluss, der durch Äußerlichkeiten entsteht. Aber politisch konservativ kann ja genausogut unchristlich sein, (dann,) wenn er Kriege befürwortet, unsoziales Verhalten, uvm., ebenso, wie es möglich ist, dass politisch progressiv christlich zu befürworten sein kann (dann, wenn es entsprechende Forderungen erhebt). M.E. ist es wichtig, sich von der zu schnellen Vereinnahmung von bestimmten Parteien und Positionen zu befreien, in diesem Sinne müsste die Kirche gänzlich „unpolitisch“ werden, auch wenn der Glaube natürlich immer auch politische Positionierung hervorruft.
zu 3) aus historischen Gegebenheiten folgt m.E. kein Zwang für heute. soll heißen: natürlich war jeder Sozialismus bisher so, dass er die Freiheit der Verkündigung einschränkte. Das kann man wiederum auch historisch erklären. Es ist deshalb aber noch nicht zwangsläufig so, dass das für Sozialismus generell gilt. Und vor allem stimmt es nicht, dass Kapitalismus per se freie Verkündigung garantiert, noch, dass Kapitalismus per se ein den kirchlichen Zwecken besser entsprechendes System sein muss. Er kann das sein, aber so kann es auch jedes andere System sein, dem Sozialismus ist doch nicht per se eigen, dass er die Kirche verfolgen muss (historisch gesehen gibt es Gründe, warum das derr Fall war, aber doch nicht systematisch gesehen). Da sollten wir unsere „christliche Energie“ nicht verbrauchen. Hier ist es m.E. eher geboten, sich immer für die Freiheit meines Nächsten einzusetzen. Das gilt in jedem System. Und grundsätzlich gilt ja nach der Zweiregimenterlehre, dass wir uns für den Erhalt des Bestehenden so lange einsetzen sollen, so lange es uns die frie Verkündigung ermöglicht und unser Nächster in Frieden leben kann.
Soweit, nochmals vielen Dank!