Malte Detje, der Co-Host des empfehlenswerten Podcasts „Tischgespräche“ hat wiederholt auf die Lutherische Dogmatik des Wisconsiner Lutheraners Adolf Hoenecke aufmerksam gemacht. Also haben wir einen Blick hineingeworfen. Mit der Anregung, doch einmal das gesamte Werk in Betracht zu nehmen, möchten wir heute besonders aufmerksam machen auf einen Abschnitt zur Heiligen Schrift, der eines unserer Grundthemen berührt: Woher kommt Glaubensautorität, aus meinem Inneren oder von außen? Aber nun hat Dr. Hoenecke das Wort:
LEHRSATZ I.
Da die Heilige Schrift als das von Gott eingegebene Wort das einzige Erkenntnisprinzip ist, so hat sie auch göttliches Ansehen und göttliche Autorität, welche darin besteht, dass eben aus ihr allein alle theologischen Wahrheiten abgeleitet und nach ihr allein alle Lehrer und Lehren geprüft werden müssen.
ERKLÄRUNG
Dass Gott selbst die auctoritas causativa für die Schrift in Anspruch nimmt, mit andern Worten, von den Menschen fordert, dass sie der Schrift unbedingten Glauben schenken, durch dieselbe sich lehren lassen und ihr gehorsam sind, das ist gewiss. Gott sagt, dass er die Menschen lehren wolle (Ps. 25, 9; 32, 8; 94, 10; Jes. 48, 17) und zwar durch sein Wort (Ps, 94, 10-12; Jes. 8, 20; Joh. 20, 31; 2. Pet. 1, 19; Röm. 15, 4; Luk. 6, 29-31). Er fordert unter Androhung von Strafen, dass die Menschen an seine Lehre, also an die Schrift sich halten (Jes. 8, 20; Sprüch. 4, 20 ff.; 5. Mos. 5, 29 ff. ; Jes. 30, 20, 21; Hos. 4, 6; Off. 22, 18; 1. Sam. 15, 23; 2. Joh. 9). Gleichwohl wird der Schrift diese Autorität von vielen versagt. Dies möchte schwerlich geschehen, wenn die Autorität der Heil. Schrift durch apodiktische Beweise außerhalb der Schrift erwiesen werden könnte. Allein dieses ist nicht der Fall. Das Ansehen der Schrift, wonach für sie in Anspruch genommen wird, dass man ihr unbedingt Glauben schenke, ruht einmal darauf, dass Gott ihr Urheber sei, und zum andern, dass er sie nach Inhalt und Ausdruck eingegeben habe. So müsste also die Wirklichkeit der Inspiration bewiesen werden. Das ist auch im vorigen Paragraphen geschehen; aber der Beweis ward aus der Schrift geliefert. So könnte der, welchem das göttliche Ansehen der Schrift noch nicht feststeht, sagen, dass dieser Beweis unkräftig sei, weil ja die Beweisstellen erst dann zwingende Kraft haben könnten, wenn zuvor die Unfehlbarkeit der Schrift feststände. So müssten wir uns also nach Beweisen außerhalb der Schrift umsehen, um die Göttlichkeit der Schrift, ihre Autorität, zu bestätigen. Keineswegs. Dann wäre ja die Autorität der Schrift nicht mehr eine absolute, in ihr selbst liegende, von nichts außer ihr abhängende, wenn dieselbe durch anderswoher genommene Beweise bestätigt würde.
Die Autorität hinge ja dann eben von diesen von außen kommenden Beweisen ab und wäre nur noch eine relative Autorität. Die Schrift muss sich in ihrem Ansehen durch sich selbst beweisen, und sie tut es, indem sie durch die in ihr liegende göttliche Kraft den Glauben an sich wirkt und erzeugt. Daher sagt auch Gerhard mit Recht, dieser Glaube an die Göttlichkeit der Schrift sei kein Glaubensartikel, sondern principium omnium articulorum fidei. So ist denn das Zeugnis des Heil. Geistes das einzige Zeugnis, welches göttlich gewiss (fides divina) macht über das Ansehen der Schrift. So lehrt die Schrift selbst (Joh. 7, 17 ; Röm. 8, 16; 1. Joh. 5, 6; 1. Thes. 1, 5, 6; 2. Thes, 2, 13, 14). So lehren auch unsere Dogmatiker.
Gegen dieses innere Zeugnis des Heil. Geistes oder gegen seine Beweiskraft für die göttliche Autorität der Heil. Schrift macht man nun den E i n w a n d, dass dieser Beweis ein reiner Zirkelschluss sei. Wenn man nämlich frage: Warum glaubst du, dass die Heil. Schrift göttlich sei, so laute die Antwort: Weil der Heil. Geist dieses durch die Schrift in dem Herzen des gläubigen Menschen bezeugt. Fragt man aber: Woher beweisest du aber, dass dieser Zeugnis gebende Geist selbst göttlich und gut sei, so laute die Antwort: Weil die Schrift es bezeugt, dass er göttlich ist und seine Versiegelung unfehlbar ist. So lege also erst der Heil. Geist Zeugnis ab für die Schrift und die Schrift gebe dann wieder Zeugnis für den Geist. Dieses sei eben ein Zirkelschluss. So Arminianer, Sozinianer usw., deren Zeugnisse gegen das Zeugnis des Heil. Geistes S t r a u s s gesammelt. Strauss selbst sagt: „Es wäre ein offenbarer Zirkel, eine gewisse innere Regung für eine Wirkung des Heil. Geistes halten auf Autorität der Bibel hin und wiederum die Bibel für göttlich halten auf den Grund jener inneren Regung hin.” Dagegen ist zu sagen: Die Schrift tritt an den Menschen mit der Erklärung heran, das Wort des Geistes zu sein und denen, die sie an sich wirken lassen, den Geist und die Gnade Christi zur Seligkeit und die Gewissheit der Gemeinschaft mit Gott im Glauben zu geben. Diese Verheißung der Schrift macht der Heil. Geist wahr und besiegelt damit durch sein inneres Zeugnis die göttliche Wahrheit und Autorität der Schrift.
Dies innere Zeugnis ist aber selbst das gewisseste, und der Heil. Geist nimmt nun nicht erst aus der von ihm bezeugten und bestätigten Schrift das Zeugnis, dass er der göttliche Geist sei, sondern das ist sein unmittelbares Zeugnis von ihm selbst. Weil nun alle Wirkung des Geistes und sein zuletzt als höchste Autorität entscheidendes Zeugnis doch von vornherein für uns durch die Schrift vermittelt wurde, so ist die gegebene Erklärung fern von aller Schwarmgeisterei. Hängt nun zwar die fides divina an die Göttlichkeit der Schrift, die absolute Gewissheit, dass sie Gottes Wort sei, nur ab von der Schrift selbst, sofern sie ja selbst das Zeugnis des Heil. Geistes vermittelt, so gibt es allerdings doch noch mancherlei andere Zeugnisse, welche die Glaubwürdigkeit der Schrift in gewissem Maße begründen können. Aber eben nur in gewissem Maße. Es kommt durch solche Beweise höchstens zu einer einigermaßen gewissen, moralischen Überzeugung, zu einer fides Humana, nicht zu der zweifellosen Gewißheit, der fides divina, welche nur durch das Zeugnis des Heil. Geistes gegeben wird. Unsere Dogmatiker bringen selbst dergleichen Zeugnisse für die Glaubwürdigkeit der Schrift und zwar mit der Unterscheidung von inneren und äußeren Zeugnissen. Die ersteren werden hergenommen von der Art und Beschaffenheit der Schrift (Würde und Vortrefflichkeit der Schrift, Tiefe ihrer Lehren, Heiligkeit, ihrer Vorschriften, Herrlichkeit ihrer Verheißungen); die letzteren werden hergenommen von den Wirkungen der Schrift (Änderung des Lebens durch dieselbe, Standhaftigkeit der Märtyrer, Zeugnis der Kirche) oder von ihren Schicksalen in der Welt (schnelle Verbreitung, Erhaltung trotz aller Verfolgung usw.) Gegen den schriftgemäßen Satz, dass der wahre, göttliche und unwandelbare Glaube an die Göttlichkeit der Schrift allein durch das Zeugnis des Heil. Geistes gegeben wird und nicht durch irgendwelche anderen, inneren oder äußeren Zeugnisse irren die Papisten, welche behaupten, dass das Ansehen der Schrift nicht von dem Zeugnis des Heil. Geistes, sondern von der Kirche abhänge. Als Zeugnisse aber, aus denen der orbis Christianus, die Kirche, die Glaubwürdigkeit der Schrift schließt, werden von Bellarmin die oben als äußeren aufgezählten Zeugnisse beigebracht. Wenn nun weiter die römische Kirche ausdrücklich sagt, dass nicht die Schrift, sondern die Kirche, zuletzt aber der Papst der oberste Richter in Glaubenssachen sei, so ist damit auch implicite gesagt, dass das Ansehen der Schrift und ihre Glaubwürdigkeit von der Kirche und zuletzt vom infallibelen Papst abhänge. Damit wird die volle Autorität der Schrift aufgehoben.
Auch die heutigen Modernen seit Schleiermacher lassen der Schrift nicht ihre volle Autorität. Sie setzen die Schrift in Abhängigkeit vom christlichen Bewusstsein, dem individuellen, wie dem sogenannten allgemeinen (kirchlichen). Sobald der Schrift irgend etwas zur Seite gesetzt wird, was auch maßgebend für die Lehre sein soll, wie es das christliche Bewusstsein bei den neueren Theologen ist, so kann keine wahre Autorität der Schrift, vor allen Dingen nicht als Quelle der Lehre, festgehalten werden, wie denn neuere Theologen, auch die positiveren unter ihnen, mehr oder minder deutlich eine auctoritas causativa der Schrift ablehnen, was sie auch schon durch die Stellung bekunden, die sie der Lehre von der Schrift in ihren Systemen geben. Frank, Luthardt und andere bringen nämlich die Lehre von der Schrift erst am Ende ihrer dogmatischen Werke bei der Behandlung der Gnadenmittel. Die volle Autorität hat die Schrift eben nur dann, wenn sie als die dasteht, in der Gott redet und zwar, wie er will. Es heißt ihre Autorität beschränken, wenn man die Schrift nicht in all ihrem Wort frei walten lassen will. Das geschieht, wenn man erwartet, ja von ihr fordert, dass sie so oder so reden müsse und nicht anders reden könne. So steht der offenkundige Rationalismus, welcher von der Voraussetzung, dass die Schrift für vernünftige Wesen gegeben sei, die Forderung ableitete, alle ihre Aussagen müssten mit der Vernunft stimmen. So steht aber auch der verdeckte Rationalismus, welcher von dem Satze aus, dass von Gott seine Vernunft zum Glauben erleuchtet sei, nun dieser oder jener Schriftaussage gegenüber tritt mit der Erklärung : Das kann mein Glaube nicht tragen. Einer klaren Schriftaussage gegenüber hat auch des Erleuchteten Vernunft kein Recht (2. Kor. 10, 5); aus der Vernunft allein kommen solche Konflikte mit deutlichen Schriftaussagen; und eine solche Gegenübersetzung zu Aussagen der Schrift ist eine Einschränkung ihrer vollen Autorität.
Ganz besonders beschränkt man aber dann ihre Autorität, wenn man gar irgendeinen Kanon aufstellt, wodurch die Schrift von vornherein präpariert und gewissermaßen unter Kuratel ge- stellt wird in Bezug auf das, was sie herausgeben soll, was sie lehren soll. Das ist seit langem geschehen und das geschieht heutzutage, indem man die Analogie des Glaubens, als einen Komplex der vornehmsten Heilswahrheiten, als höchste Norm der Schriftauslegung stellt, dass sie nichts anders lehren darf, als was dieser Norm, der Analogie des Glaubens in dem heute gangbaren Sinne, gemäß ist. Das heißt wahrlich der Schrift ihre Autorität nicht lassen. In Antithese stehen hier auch alle Rationalisten, so Sozinianer, Arminianer, Wolffianer, vulgäre Rationalisten, welche die Glaubwürdigkeit der Schrift nicht zuletzt auf das innere Zeugnis des Heil. Geistes gründen, sondern dieselbe nur auf die äußerlichen Kriterien basieren wollen. Die richterliche oder kanonische Autorität der Schrift (auctoritas normativa sive canonica) begreift in sich, dass die Schrift die einzige Richtschnur und der einzig entscheidende Richter ist in allem Lehrstreit. Eigentlich soll der Richter eine Person sein und ist es auch, nämlich der Heil. Geist; aber da die Schrift ja seine Stimme ist, so nennen wir sie selbst Richter. Wenn nun, wie es doch geschieht, Menschen in Glaubenssachen Richtspruch und Urteil abgeben, so sind diese wohl auch als Richter anzusehen; aber nicht in sich selbst, sondern nur, sofern sie das Urteil der Schrift in irgendeiner Lehrfrage proklamieren. Dass der Heil. Schrift die richterliche Autorität zukommt, beweisen:
- Apg. 15, 28: „Es gefällt dem Heil. Geist und uns.” Dass es dem Heil. Geist gefiel, das ward aus Amos 9, vgl. mit Apg. 15, 16. 17, also aus der Schrift ersehen.
- 5. Mos. 4, 2; 6, 6; Luk. 16, 29 zeigen, dass Gott uns allein auf die Schrift als Richtschnur für unsern Glauben verweist.
- Christus und die Apostel richteten sich in den Glaubensstreitigkeiten nach der Schrift (Matth. 19, 4 ; Joh. 5, 39 ; Apg. 26, 22; 17); darum auch wir, denen das Exempel Christi und der Apostel maßgebend sein soll.
- Röm. 10, 17: „So kommt das Predigen durch das Wort Gottes.” Kommt das Predigen, also Lehren überhaupt, aus dem Worte Gottes, so ist zugleich das Wort der Maßstab für die Beurteilung, ob die Predigt aus dem Wort gekommen ist.
- Nur die Schrift kann Richter sein, niemand anders, denn sie allein ist unfehlbar; nicht aber ist dies ein einzelner Mensch, oder die ganze Kirche an sich.
Nun ist die Frage, in welcher Gestalt die Schrift Richter in Glaubensstreitigkeiten sei; ob auch in guter treuer Übersetzung, oder nur im Urtext. Gewiss nur in letzterem, denn nur dieser ist der inspirierte Text. Nur im Urtext haben wir das vom Heil. Geist wirklich gegebene, ursprüngliche Wort; und eben auf dieses kommt es ja in allen Lehrentscheidungen besonders an. Hieraus folgt nicht, dass dem, welcher der biblischen Ursprachen nicht mächtig ist, nun die Schrift keine Richtschnur, ja auch zuvor schon keine Quelle des Glaubens sein könne; denn wir haben festzuhalten, dass wesentlich Gottes Wort nicht die Buchstaben und die Wörter sind, sondern der geoffenbarte göttliche Sinn, der ja gewiss in sorgfältiger Übersetzung treu wiedergegeben werden kann, so dass die Schrift auch in einer Übersetzung genügend erachtet werden muss, sowohl uns den Glauben zu erzeugen, als auch uns für Glauben und Leben Richtschnur zu sein. In Antithese gegen die Lehre der Schrift, welche sich allein für den Richter in Glaubensstreitigkeiten erklärt und somit das glaubensrichterliche Ansehen für sich in Anspruch nimmt, steht die römische Kirche, welche einerseits das richterliche Ansehen der Schrift bestreitet und anderseits dies Ansehen anderswohin überträgt.
Aber hierbei ist wohl zu bemerken, dass diejenige Tradition, welche zwar der Schrift nicht direkt zu widersprechen scheint, aber doch irgendein neues Dogma bringt mit dem Anspruch, dass es zu glauben zur Seligkeit nötig sei, tatsächlich dem Evangelium Pauli widerspricht; denn Paulus sagt, dass kein anderes Evangelium sei als das seine, und dass sein Evangelium auch die Seligkeit gebe (1. Kor. 15, 1, 2), dass also nichts mehr daneben gebraucht werde. Ein Evangelium aber mit noch weiteren Dogmen, und zwar mit weiteren zur Seligkeit für nötig erklärten, als sie in Pauli Evangelium enthalten sind, ist jedenfalls ein anderes Evangelium als das Evangelium Pauli und damit auch ein dem Evangelium Pauli, das sich in seiner Gestalt als zur Seligkeit genügend erklärt, widerstreitendes Evangelium. Und ist nun gewiss, dass das Evangelium Pauli überhaupt das Evangelium des ganzen Worts Gottes ist, so ist allerdings Gal. 1, 8 ein Zeugnis für die Vollkommenheit der Schrift.
In Antithese stehen hier alle rationalistischen und schwarmgeisterischen Sekten, Sozinianer, Arminianer, Weigelianer, Quäker usw. Sie machen die Vernunft (Sozinianer, Arminianer), oder innere Offenbarung (Weigelianer, Quäker), oder die innere Erfahrung und Erleuchtung (Methodisten) zum Richter in Glaubenssachen. So falsch es nun ist, dass ein wahrhaft Bekehrter, wie die Methodisten behaupten, eben weil er ein solcher sei, über Glaubenssachen richten könne und solle, und zwar nach der Richtschnur seiner inneren Erfahrung, so ist es doch richtig, dass, auf die Schrift als Richtschnur sich gründend, alle rechtschaffenen, wahren Christen Richter über Glaubensfragen sein sollen. So lehrt es die Schrift, wenn die Christen aufgefordert werden, selbst der Apostel Wort zu richten (1. Kor. 10, 15) und alles zu prüfen (1. Thess. 5, 21, vgl. 1. Kor. 11, 13 ; 1. Tim. 1, 4). Nicht minder richtig aber ist es, dass die Entscheidung zumal in wichtigen, die ganze Kirche angehenden Lehrfragen ganz besonders denen anheimfallen soll, welche das öffentliche Lehramt haben; vgl. Apg. 15, 6. 7. 12. 13. 22.
Aus: Adolf Hoenecke, Ev.-Luth. Dogmatik, 381 ff.