Traditionen sind in der Kirche ein dauerhafter Streitpunkt – was gehört dazu, soll man es behalten, sind Traditionen wichtig ist hindern sie uns, … . Die Meinungen dazu sind vielfältig und eine einheitliche Bewertung auch in Zukunft eher unwahrscheinlich. Wie umgehen mit dem ‚Alten‘, dem wahlweise der Status eines Schatzes oder des Ballasts zugeschrieben wird? Darauf gibt Melanchthon in der Apologie der CA einige Antworten (Artikel XXIV):
So behalten wir das Latein um derer willen, die Lateinisch können, und lassen daneben deutsche christliche Gesänge gehen, damit das gemeine Volk auch etwas lerne und zu Gottesfurcht und Erkenntnis unterrichtet werde. Der Brauch ist allezeit für löblich gehalten in der Kirche. Denn wiewohl an etlichen Orten mehr, an etlichen Orten weniger deutsche Gesänge gesungen werden, so hat doch in allen Kirchen je etwas das Volk deutsch gesungen; darum ist’s so neu nicht.
ApCAXXIV, https://thebookofconcord.org/deutsch/apologia-der-konfession/
Das Bestehende behalten dient denen, die schon da sind. Aber Traditionen sind mehr als nur bestehendes, sie können auch in den Hintergrund getreten sein. Traditionen können auch denen dienen, die gerade noch nicht da sind, wenn sie neu entdeckt werden. So war es mit den deutschen Gesängen im Gottesdienst, in der Messe: es gab sie schon vor der Reformation, aber ihnen kam keine Aufmerksamkeit zu, sie wurden nicht als wichtig erachtet. Die Reformatoren revidierten diese Einschätzung und konnten mittels eines etablierten, traditionellen Instruments – des deutschen Gesangs – etwas neues und damit neue Menschen erreichen: diejenigen, die kein Latein konnten (das Englisch der Zeit). Und diese Lieder haben, da ist man sich einig, einen wesentlich höheren Einfluss auf die allgemeine Verbreitung der reformatorischen Überzeugungen gehabt, als theologische Schriften.
Was also tun mit dem Ballast? Ihn über Bord werfen? Nein, nicht pauschal. Vielmehr: darüber nachdenken, welche Potentiale der Ballast entfalten kann, wenn man mal ganz neu über ihn nachdenkt und nicht einfach so weitermacht, wie bisher. Ballast ohne Ballast also. Diese Antwort bedeutet, dass die Verfechter von Traditionen vor der Aufgabe stehen, innovativ mit Traditionen umzugehen. Und diejenigen, die pauschal Traditionen ablehnen, vor der Einsicht stehen, dass ihre ‚Innovativen‘ manchmal Dinge sein können, die der Tradition längst bekannt waren.