In seinem phantastischen „Die reine, gesunde Lehre von der wahren Gegenwärtigkeit des Leibs und Bluts Christi in seinem Abendmahl etc.“ schreibt Martin Chemnitz auch über die Auslegung der Schrift und zieht dazu seinen Vorvater Phillip Melanchton und indirekt auch Augustinus heran. Die beschriebenen Grundregeln sind, einfach ausgedrückt, die, dass es für die klassischen Lehrstücke der Kirche eindeutige und klare Schriftstellen gibt (die sogenannten sedes doctrinae – die Sitze der Lehre). Diese klaren Stellen legen andere, unklare Stellen aus. Diese Regel kann natürlich aber auch über die sedes hin ausgeweitet werden. Auch Melanchtons mehrfache Frage nach der Haltlosigkeit der Seele in Anfechtung, wenn sie sich nur auf ihre eigene Vernunft stützt, ist belastbarer als es vielleicht zuerst scheinen mag. Alles in allem wollen sich Herr Chemnitz und Herr Melanchton nicht so recht in das Bild von den verbohrten und minderbemittelten Mittelalterklötzen einfügen, das heute doch immernoch gern zur Zementierung unseres Selbstverständnisses als Krone der menschlichen Entwicklung herangezogen wird. Zu nuanciert ist doch ihr Umgang mit der Thematik.
„Es ist kein Zweifel/ dass in der Schrift viel Tropi und Figuren sind/ da man die Wort anders verstehen muss/ denn [als] sie lauten. Es ist aber auch das gewiss/ das man nicht alle Sprüche der Schrift/ von den Worten auf eine andere Meinung/ und Fremdbedeutung ziehen muss. Denn es sind viele Sprüche/ sonderlich darin Gott von seinem Wesen und Willen Offenbarung getan/ mit klaren/ deutlichen/ verständlichen Worten/ in der Schrift gesetzt. Wenn nun dieser Mutwille gestattet würde/ dass man mit einem jeden Spruch/ so möchte spielen/ [das heißt,] einer möchte die Wort verstehen/ wie sie lauten/ oder wenn’s ihm nicht gefiele/ möchte er von den Worten abweichen/ und den Buchstaben eine andere Meinung aufdringen/ so würde man leichtlich alle Artikel des Glaubens können umstoßen/ und würde endlich in der ganzen Schrift/ nichts Gewisses bleiben. Derhalben muss man notwendig eine gewisse / beständige Regel haben/ in welchen Sprüchen und Orten der Schrift/ man durch Tropos und Figuras/ von den Worten abweichen könne/ und welche Sprüch‘ man nach den Buchstaben/ wie sie lauten/ auslegen und verstehen müsse/ auf dass das Gewissen [in] der Auslegung/ auf gewissen Grund gezeigt und geweiset wird/ [auf welchem es] friedlich beruhen könne. – Nun hat Augustinus Buch De Dotrina Christiana im 3. cap. 10. & 16. solche Regel/ nach Art seiner Rede/ etwas kurz und dunkel gesetzet/ derhalben wir hierher verzeichnen und verdeutschen/ die Wort des Herren Philippi Melanchthon (im Buch De Sententijs Veterum.), in welchen die Regula klar/ herrlich/ schön/ und deutlich/ gefasset ist/ und dies sind seine Worte:
Die alten Lehrer bezeugen öffentlich/ das im Abendmahl gegenwertig sei/ der Leib Christi/ so kann ich auch keine genugsam beständige Ursach finden/ warum wir von dieser Meinung abweichen sollten. Das kann wohl sein/ dass einem müßigen Herzen/ eine andere Meinung besser gefiel/ weil sie dem menschlichem Verstand näher/ und der Vernunft mehr gemäß ist/ vornehmlich was vorgebracht und geschmückt wird mit solchen Argumenten/ die weislich und künstlich erdacht sind. Was würde aber folgen in Anfechtungen? Wenn das Gewissen bei sich selbst/ würde anfangen zu disputieren/ „aus welchen Ursachen bist du abgetreten/ von dem allgemeinen und angenommenen Verstand und Meinung in der Christlichen Kirchen?“, dann würden diese Wort/ (das ist mein Leib) eitel Donnerschläge sein. Was will denn dann ein erschrockenes Gewissen/ solchen Donnerschlägen entgegensetzen? Mit welcher Schrift? Mit welcher Stimme Gottes/ will es sich verwahren/ und vergewissern, dass man notwendig habe müssen von den Worten weichen/ und sie anders verstehen und auslegen/ als sie lauten? Sie können nicht viel wissen und erfahren haben/ vom geistlichen Kampf des Gewissens/ die so leichtlich auf neue Lehre fallen/ und die unter die Leute bringen, denen ihr geschwinder Kopf so wohl gefällt/ dass sie mehr halten/ von ihren Argumenten / die aus großer Kunst herfließen / als dann,/ wenn sie die Wort der Schrift für sich haben. Ich weiß es/ wie leichtlich solche Argumente/ [welche] mit der Schrift nicht übereinstimmen/ uns unter den Händen/ in der Anfechtung verschwinden/ wenn sie gleich zuvor noch so einen großen Schein haben gehabt. […]
Denn wie wohl die Heilige Schrift voll ist/ [von] allerlei Art und Figuren/ da man von der Eigenschaft der Wort weichen muss, so ist [es] aber doch ein großer Unterschied/ wenn in der Schrift Historien beschrieben/ oder Geschichten erzählet werden/ und wenn Göttliche Verordnung und Stiftung beschrieben werden/ darin die Lehr von Gottes Wesen/ und seinem Willen geoffenbaret ist. In Erzählungen und Geschichten der Historien/ werden solche Dinge beschrieben/ die sich unter den Leuten zutragen. Da kann man leicht aus der Vernunft urteilen/ wenn etwas mit der Ordnung und Umständen der Historien sich nicht reimet/ das muss man figürlich auslegen. Wenn wir uns nun auch unterstünden solches zu tun/ in den Sprüchen der Schrift/ darin Gottes ausdrücklicher Befehl/ oder die Artikel von Gottes Wesen und seinem Willen gegründet sind/ was daraus folgen würde, mögen alle Gelehrten erfahrenen Leute/ leichtlich erachten. Denn in solchen Sprüchen/ heißet Absurditas, ungereimt/ ungeschickt Ding/ wenn es sich stößt/ wider andere Sprüche der Schrift/ die da heller und klarer sind/ oder wider die Artikel des Glaubens. Dasselbige muss gemäßigt und korrigiert werden/ durch eine figürliche Art zu reden/ damit es mit den anderen übereinstimme. Wenn es sich aber allein stößet an der Vernunft/ und nicht an der Schrift/ so gebührt sich‘s/ dass man das Göttliche Wort/ dem Urteil der Vernunft vorziehe. Denn es muss ja eine gewisse/ beständige Meinung[1] sein der Sprüche/ daraus man die Lehr/ oder Artikel des Glaubens nehmen soll. Wo uns aber gestattet soll werden/ auch dieselbigen Sprüche/ einem jeden seines Gefallens nach auszulegen/ so kann man alles umstoßen und umwerfen. […]
Allein dass sich an den Worten stoßet/ die Absurditas, dass die Vernunft sich darein nicht richten kann/ das ist ja nicht ein genügsame Ursach/ das wir darum von den Worten sollten abweichen. Denn wenn wir uns dadurch wollten von der Schrift lassen abführen/ so würde uns in keiner Anfechtung/ die Schrift nutz können sein.“
[1] Bedeutung
Ich halte das nach wie vor für unrichtig.
Nicht wegen dem finitum non capax infinitum oder dergleichen, sondern wegen der Akzentverschiebung.
Wenn die Teilnahme am Mahl signifikant von der Auffassung beeinflusst oder gar bedingt wird, die dem Mahl zugrunde liegt, dann wäre das wohl so, wie das Luthertum meint. Es ist aber nicht so, sondern die Christen sind zum Mahl gerufen, ja, gerufen. Sie sollen teilhaben am Mahl, und haben sie Teil, dann haben sie Teil, und es ist zweitrangig, welches Verständnis sie dabei haben.
Zweitrangig, sage ich, aber nicht unwichtig.
Luther konnte sich vom mittelalterlichen Sakramentalismus nie lösen.
Sicher, er nannte Zwingli und Bullinger und deren Anhänger Sakramentierer und sprach ihnen (zu Unrecht) den rechten Glauben ab.
Hierin irrte Luther leider, und leider blieb er stur.
Ja, auch ich glaube, Teil zu haben an Jesus Christus im Mahl. Aber das eigensinnige Festhalten an einer mittelalterlichen Idee ist hier nicht vonnöten. Vielmehr liegt ihm ein materialistischer Gedanke zugrunde, ähnlich dem Traduzianismus, der ja auch auf materialistischen Prämissen beruht.
Es ist schade, dass man sich hier nie einigen wird können. Vielleicht aber auch nicht sehr schlimm, wenn nur moderne Lutheraner nicht anderen, die ihre Auffassung nicht teilen können, den rechten Glauben absprechen – diesen Streit würde Paulus nämlich mit Sicherheit als „fleischlich“ bezeichnen.
Warum an diesem großen Geheimnis so beharrlich rütteln?
Es ist nicht vonnöten.
Das verschiedene Abendmahlsverständnis ist kein „kirchentrennendes“ Theologumenon.
Nun, auch die Äußerung, Luther habe hier geirrt, ist eine Festlegung, die eben nicht einfach das Geheimnis stehen lässt, sondern es in eine bestimmte Richtung hin auflöst – in Richtung der reformierten Auffassung nämlich. Aber warum sollte die wahrer sein als die lutherische? Wir meinen eben, dass die lutherische Aufassung biblisch ist, die reformierte dagegen philosophisch bedingt. Ich gestehe dir gern zu, das anders zu sehen, aber beides sind Entscheidungen, die das andere ausschließen – die lutherische Sturheit ebenso wie die reformierte Sturheit.
Es als Geheimnis stehen zu lassen, geht an. Aber philosophisch bedingt? Nein, das ist meine Sicht nicht.
Ich glaube auch nicht „an eine reformierte Sicht“, sondern so versteht man den Text ganz natürlich, wenn man ihn liest.
Man weiß einfach sofort: das *est* ist keine Identifikation, sondern ein Gleichsetzen.
Es ist symbolisch gemeint. Jesus sagt von sich auch, er sei „die Tür zu den Schafen“. Kein Lutheraner wird aber darauf beharren: Jesus sei eine Tür. Er hat auch gesagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Was bedeutet das? Dass wir „auf“ ihm zu Gott kommen. Dass das, was er sagt, stimmt (und das, was ihm widerspricht, nicht). Dass ER selbst es ist, an den wir uns halten müssen, wollen wir ins ewige Leben eingehen, dass ER allein alles ist, was wir für den Eingang in dieses Leben brauchen. Mit einem Wort: Das sollen wir glauben, festhalten, in Leben und Tod. (Mein einziger Trost im Leben und im Sterben …)
Jesus sagte seinen Jüngern klar, er werde nicht leiblich bei ihnen bleiben (Joh 16,28; Mt 9,15; bes. Joh 12,8). Die Stellen sagen es unumwunden und genau.
Genau deshalb setzte er ja das Abendmahl ein! Wäre Jesus in, mit und unter (was ganz nah an der Transsubstantiation ist!) Wein und Brot, so wäre es auch kein Gedächtnismahl mehr, sondern man würde die (leibliche) Gegenwart Jesu Christi feiern. Das aber ist unrichtig, mein lieber Freund, und daran ändert auch Luther nichts.
Ich könnte genauso gut und mit gleichem Recht behaupten, hinter dem lutherischen Mahlverständnis verbirgt sich (nominalistische?) Philosophie. Hast Du das schon bedacht? Aber ich will es nicht tun. Denn ich bin überzeugt von den guten Absichten Luthers: Er wollte, wir sollen im Abendmahl nicht einfach ein Gedächtnismahl haben, sondern durch die Kommunikation tatsächlichen, echten Anteil erhalten an Jesus Christus – und das halte ich für wahr und richtig. Denn Jesus sagte ja: Wer mein Blut trinkt … Freilich kann und muss man hier auch an den Genuss des Traubensaftes denken.
Wichtiger als das Abendmahlsverständnis ist doch das Mahl selbst, oder nicht? Es geht doch um unser (ewiges) Leben!
Erst Mal nur kurz und zum Teil:
Ein Symbol ohne Tatsache dahinter ist kein Symbol. Ein Symbol verweist auf etwas größeres, ist in sich aber dennoch wahr. Vgl. unseren Beitrag dazu. Natürlich ist das Abendmahl eine symbolische Feier. Natürlich sind die Elemente Symbole. Aber eben so, wie auch die Wunder Symbole der Göttlichkeit Jesu sind. Das heißt: seine Göttlichkeit ist nicht auf die Wundertätigkeit beschränkt. Aber sie ist dennoch in ihnen echt und vorhanden.
Nun noch einmal zum zweiten Teil. Die biblischen Belege, dass Jesus nicht mehr da (sein kann). Da spricht allerdings MT 28, 20 zB eine andere Sprache. Auch: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Insofern: Wenn Jesus will, dass er im Aberndmahl in mit und unter den Elementen ist, ist er es auch.
Und du sagst selbst: Er sagt, „wer mein Blut trinkt“. Insofern ist diese Auffassung biblisch, ich sag mal, egal ob Wein oder Traubensaft (das ist jetzt etwas verkürzt und da kann man natürlich auch disputieren). Und insofern ich biblische Belege für diese Auffassung finde, mag sie sich auch in philosophischen Modellen wiederfinden, ist aber biblisch.
Naja für das Mahl selbst ist ja immer die Frage, was wir hier eigentlich machen. So kurz dazu.
Die Tatsache hinter dem Symbol ist doch das Versprechen der Teilhabe am Leib Christi! Und der Leib Christi ist –– die Gemeinde.
Wer am Abendmahl teilnimmt (gehen wir mal davon aus: zurecht), hat darin die Zusage der Vergebung und der Teilhabe an eben diesem Leib. INSOFERN ist der Leib Christi in, unter und mit Brot und Wein.
Jesus Christus identifiziert sich mit seinem Leib, seiner Braut, seiner Gemeinde – das ist doch so zu bewundern und zu bestaunen.
Wer am Abendmahl teilnimmt, isst das Brot des Lebens und trinkt das Blut dessen, der gesagt hat: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Es ist ein Symbol der Teilhabe, und diese Teilhabe IST dieses Größere, Dahinterstehende.
Liebe Grüße!
Moment. Vielleicht hab ich mich falsch ausgedrückt. Das Symbol verweist auf eine tiefer-/weitergehende Tatsache, ist aber selbst auch eine Tatsache. Es steht nicht nur für irgendwas, es ist selbst auch etwas. In dem Fall ist es Leib und Blut.
Ja, da stimme ich zu. Das verstehen wir offenbar gleich. Es ist und bleibt ein ontologisches Mysterium. Vielleicht sollten wir es einfach dabei belassen, denn möglicherweise sprechen wir dreidimensional über eine mehrdimensionale Sache.