Es gibt historisch gesehen eine recht große Strömung im Luthertum, die dem Nationalen nahe steht oder sogar als nationalistisch bezeichnet werden kann. Prominentes Beispiel sind sicher Paul Althaus und Werner Elert in ihrer Rolle während des Dritten Reiches (vgl. etwa ihr Gutachten zum Arierparagraphen). Die Ursache dafür wird meist in der Forderung des Obrigkeitsgehorsams, wie sie schon die Reformation und die Lutherischen Bekenntnisschriften aufgestellt haben, gesehen: Obrigkeitsgehorsam führe zu einer nationalkonservativen Grundstimmung. Auch heute noch gibt es Lutheraner, die in dieser politischen Fluchtlinie zu finden sind. Meist gibt es für sie mehrere Begründungen dafür: (a) Die Familienpolitik, in der konservative, rechte oder nationale Parteien meist klassische Familienbilder propagieren und damit (vermeintlich) dasselbe vertreten. (b) Die Angst vor (vermeintlich) zersetzenden Absichten der eher linken Parteien, die den Staat zerstören wollten und so eine Situation schaffen würden, in der die ruhige Verkündigung nicht mehr möglich ist. Dazu kommt, dass sie religionskritisch auftreten. Damit sind sie ganz klar gefährliche Feinde und – naja, der Feind meines Feindes ist mein Freund. Aber, wie stichhaltig sind diese impliziten Voraussetzungen?
Nun, um eins voranzustellen: Es gibt natürlich keine von vornherein ‚richtige‘ politische Heimat für Christen. Es kommt – wie so oft – auf den Inhalt an. Es gibt nur einige Grundsätze, etwa: Man soll weltliche Ordnungen und Rechte halten. Gott der Herr will, dass den groben Sünden durch eine äußerliche Zucht gewehrt werde, und um dasselbe zu erhalten, gibt er Gesetze, ordnet Obrigkeit, gibt gelehrte, weise Leute, die zum Regiment dienen. Obrigkeit und Regiment, auch ihr Recht und Strafe und alles, was dazu gehört, sind gute Kreaturen Gottes und Gottes Ordnungen, die ein Christ mit gutem Gewissen gebrauchen darf. Das Evangelium bringt nicht neue Gesetze im Weltregiment, sondern gebietet und will haben, dass wir den Gesetzen sollen gehorsam sein und der Obrigkeit, unter der wir wohnen, es seien Heiden oder Christen, und dass wir in solchem Gehorsam unsere Liebe erzeigen sollen. (Zitate aus FC und Apologie)
So weit, so bekannt vielleicht, und so deutlich: Gott hat viele Ordnungen in der Welt eingesetzt zu unserem Nutzen, auch wenn die jeweilige Ordnung selbst überhaupt nicht christlichen Grundsätzen folgt. An diesen Ordnungen dürfen und sollen Christen teilhaben, sie können also auch Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen. Aber auch Heiden können von Gott zur Obrigkeit eingesetzt sein. Die von Gott gesetzte Ordnung betrifft nämlich nicht nur das damalige Heilige Römische Reich (welches nicht mit „Deutschland“ gleichzusetzen ist), sondern auch die anderen Regionen dieser Erde – in der Zeit der Bekenntnisse etwa auch Frankreich, England oder das Osmanische Reich. In all diesen Ländern können Christen leben, können der Obrigkeit Untertan sein und können selbst Obrigkeit sein. Die lutherischen Bekenntnisse kennen also auch keine bestimmte Staatsform, die richtig ist. Sie reden natürlich von einem „Kaiser“, von „Königen“, aber nur im konkreten Bezug auf das faktisch vorhandene, nicht auf das normativ richtige. Es ist in ihnen nicht festgelegt, wie die Staatsform auszusehen hat. Letztlich gibt es nur drei Bedingungen:
a) Die gegenwärtige Staatsform ist zu ehren und zu achten, in ihr ist zu leben und an ihr ist zum Guten mitzuwirken.
b) Das Handeln des Christen soll dem Nächsten dienen.
c) Der Obrigkeitsgehorsam endet, wo die Obrigkeit etwas fordert, was nur durch Sünde einzuhalten ist: Christen sind schuldig, der Obrigkeit untertan und ihren Geboten gehorsam zu sein in allem, das ohne Sünde geschehen kann; denn so der Obrigkeit Gebot ohne Sünde nicht geschehen kann, soll man Gott mehr gehorsam sein als den Menschen (Apost. 5,29). (CA 16)
Was nicht zu vergessen ist: Die Obrigkeit soll nicht tun und lassen, wie sie will. Sie soll den Menschen dienen, soll deren Beste und nicht das eigene suchen. Sie muss sich vor Gott verantworten. Die Bestimmungen zum Obrigkeitsgehorsam sind also gerade kein Freibrief für dieselbe. Beide Bereiche müssen getrennt beachtet werden. Am Ende gilt Eph 6,9.
Obrigkeitsgehorsam und nationalkonservative Grundstimmung sind nicht dasselbe. Das Handeln des Christen kann nicht zu Lasten von Schwachen, Minderheiten oder Verfolgten gehen und er kann solches nicht akzeptieren. Der Christ hat auch nicht egoistisch ausschließlich „sein eigenes Land“ im Blick und im Sinn zu haben. Eine Abwertung anderer Regionen ist nicht zulässig, denn auch dort leben Menschen, die von Gott geschaffen sind, auch diese können ‚der Nächste‘ sein (Lk 10,25-37). Ein Staat ist in dem Sinne eben nicht christlich, dass seine Bewohner meinen könnten, es sei recht, andere Völker zu verachten und sich über sie zu erheben. Das mag ein menschlicher Impuls sein, es kann aber nie ein christlicher sein (Gal 3,28).
Wird also „Deutschland über alles“ gestellt, so hat sich der Gläubige verannt. Er läuft dann einem Götzen nach, den er über Gott gesetzt hat. Nein, als Christ in Deutschland hat er der demokratischste aller Demokraten zu sein und sich nicht nach vermeintlichem Glanz, vergangenen Reichen oder Reichtümern zu sehnen. Nationales Luthertum ist somit ein Irrtum. Und war auch schon vor hundert Jahren ein Irrtum. Nun lässt sich das Vergangene erklären und verstehen – die Lutheraner hätten es besser machen müssen, waren aber Menschen und haben gesündigt. Das Gegenwärtige aber lässt sich auch ändern und korrigieren: Ein Lutheraner soll Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen. Er sei der Obrigkeit untertan, widersetze sich ihr nicht. Er tue seinen Dienst mit gutem Willen als einen Dienst für Gott und nicht für die Menschen. Und er weiß: Gott ist Herr im Himmel über alle Menschen, bei ihm gilt kein Ansehen der Person (Eph 6).
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