Martin Chemnitz erläutert die hochaktuelle Frage, warum man denn die Gute Nachricht nicht einfach ohne das ganze Ding mit der Sünde predigen kann – und das schon vor knapp 450 Jahren. Manche Themen sind wohl doch irgendwie nicht erst in den 1960ern entstanden … *grübel*. Lies hier:
Soll man auch die Gesetze der Zehn Gebote den Christen im Neuen Testament predigen und vorhalten?
Ja: Denn Christus und Paulus haben das auch getan (Matthäus 5, Römer 7 und 13).
Aber Christus hat doch befohlen, allein das Euangelium zu predigen (vgl. Marcus 16)?
Euangelium heißt an dem Ort insgesamt die ganze Lehre des göttlichen Wortes, welches Hauptstück Christus in Lukas 24 erzäht. Buße und Vergebung der Sünde, wie es Paulus in Apostelgeschichte 20 sagt. Buße zu Gott und Glauben an Christus. Buße aber – das heißt, Erkenntnis der Sünden und des Zornes Gottes – ist eigentlich nicht eine Lehre des Euangelii, sondern des Gesetzes.
Wozu aber ist es nütze oder not, aus dem Gesetze die Sünde zu strafen und mit Gottes Zorn zu drohen, weil doch das Ende ist, dass Gott Sünde vergeben will und die Sünder zu Gnaden aufnehmen, um Christus willen: Warum fängt man nicht gleich vom Euangelio [zu reden] an?
Matth. 9: Die Gesunden bedürfen des Artztes nicht, sondern die Kranken. Das bedeutet: Das Euangelium wird den Armen und durchs Gesetze zerschlagenen und zerstoßenen Herzen geprediget, vgl. Lukas 4, Jesaja 61 und 66. Denn ein pharisäisches Herz denkt, es bedürfe des Euangelii oder Christi nicht und ein sicheres Herz begehrt es nicht. Darum muss durchs Gesetz dem Herrn Christus der Weg bereitet werden, [um zu zeigen,] wie es mit all ihrem Tun zur Seligkeit verloren sei und sie nichts verdienen, als eitel Zorn: Den Sicheren aber offenbar werde, wie greulich ihre Sünde vor Gott sei und wie sie unter Gottes Zorn in Verdammnis stecken, auf dass sie also allerseits hungrig und bedürftig nach der Gerechtigkeit mögen werden, die das Euangelium in Christo offenbart, etc.
Kan mann doch im Euangelio, das heißt, dem Leiden Christi, viel klarer zeigen und sehen, ein wie greulich Ding die Sünde sei und wie schwer Gottes Zorn sei. Wie Bernhardus* sagt: Ich hätte das nimmermehr geglaubt, wenn ichs nicht gesehen hätte an dem Sohn Gottes. So bedarf man ja dazu der Lehre des Gesetzes nicht?
Die Sünde offenbaren, also, dass man erkenne, welches Sünde oder nicht Sünde sei. Item, das Urteil des Zornes Gottes und der Verdammnis über uns sprechen, ist nicht ein Amt des Euangelii, sondern des Gesetzes: Röm. 3 und 4, 2.Korinth. 3. Aber weil das Euangelium lehret, dass Christus uns erlöset und mit dem Vater versöhnet habe, so zeiget und weiset es auch, wovon uns Christus erlöset, nämlich vom Fluch des Gesetzes (Gal. 4). Item, wie und womit er uns die Versöhnung erworben habe, nämlich, dass er unter das Gesetz getan unsere Sünde und Gottes Zorn getragen und dafür nach dem Gesetze Genugtuung getan [hat]. Und also erklärt das Euangelium die Lehre des Gesetzes, indem es in Christo zeiget, welch ein schwer uneträgliches Ding Gottes Gericht ist; die Sünde und die Strafe der Sünde, denn es lehret, dass Christus für uns unter das Gesetze getan sei ´(Gal. 4). Und [es] bleibt gleichwohl ein klarer Unterschied des Gesetzes und des Euangelii, denn das Euangelium predigt, dass Gott seinen Sohn für uns unter das Gesetz getan, unsere Sünde auf in geworfen, seinen Zorn und den Fluch, den wir bewirkt, über ihn ausgeschüttet, zu unserer Erlösung und Versöhnung. Das Gesetz aber hat mit unserer Person zu tun, straft unsere Sünde nicht an einem anderen, sondern an uns. Es spricht das Urteil des Zornes und des Fluches wegen unserer Sünde nicht über einen anderen, sondern über uns zur Verdammnis, wo wir nicht die Versöhnung in Christo ergreifen.
Martin Chemnitz, „Handbüchlein der fürnemsten Hauptstück der Christlichen Lehre durch Frag und Antwort aus Gottes Wort erkleret“, Magdeburg 1579