Nachdem bereits gezeigt wurde, wie sich innerhalb eines biblischen Buches beide Worte Gottes – Gesetz und Evangelium – finden lassen, soll nun noch einmal gezeigt werden, wie sich beides in ein und demselben biblischen Ausdruck finden lässt und damit deutlich werden, was O. Bayer als eigentliche theologische Aufgabe beschreibt – die situationsbedingte Auslegung des Wortes Gottes als Gesetz und Evangelium, geleitet durch den Heiligen Geist.¹ Ich gehe dieses Mal von einem Satz aus dem Neuen Testament aus, wobei auch hier wieder gilt, dass die grundsätzliche Beobachtung auch im Alten Testament zu machen ist.
Blicken wir auf Johannes 20,27, wo Jesus zu Thomas sagt: „Sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ Oft wird der kontextuelle Bericht in Predigten so gedeutet, dass hier Thomas kritisiert wird, weil er nicht genug geglaubt habe. In manchen modernen Predigten wird wiederum der Zweifel des Thomas lobend herausgehoben: Endlich mal jemand, der denkt und nicht glaubt, ja, „wir alle“ sollten ein Thomas sein.
Das Verhältnis von Gesetz und Evangelium lässt dagegen einem anderen Schluss zu: „Sei gläubig!“ kann als Wort des Gesetzes verstanden werden: Es ist dann eine Aufforderung, die den Menschen auf seine Ungenügsamkeit aufmerksam macht. Es verdammt ihn: Nach all den Erlebnissen mit Jesus glaubt Thomas nicht genug. All sein Bemühen reicht nicht aus. Diese Verkündigung hat ihren Platz, da, wo Menschen, die selbstgerecht sind, Gottes Wort verkündigt wird.
Wenn das zur Verzweiflung des Menschen führt und seiner Kehle der Schrei entspringt, „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“, dann wird dasselbe Wort zum Evangelium: „Sei gläubig!“ heißt dann: Ich mache dich gläubig. Als ein effektives Wort (verbum efficax) Gottes ist das dann wie ein Freispruch zu verstehen: „Sei nicht mehr ungläubig, sondern gläubig!“ ist zu lesen als Spruch des Richters: „Sei nicht mehr Angeklagter, sondern frei!“ (vgl. den performativen Akt in der Sprechakttheorie).²
Nun könnte man meinen, das Zweite reiche doch aus – Gott hat dich lieb, das kennen wir, das hören wir oft, das ist angenehm. Doch, so betont Luther, das ist eben nicht ausreichend, ja, noch nicht einmal immer richtig. Dem selbstgerechten Menschen ist dies genau die falsche Predigt. Wird dem nichtverzweifelten, stolzen Menschen so gepredigt, so läd der Prediger Schuld auf sich – die Schuld, dem Menschen das Wort Gottes nicht gesagt zu haben. Insofern ist die Unterscheidung nicht nur sinnvoll, sondern geradewegs geboten, sie ist notwendig, will die Kirche den Willen Gottes in der Welt verkündigen.
Kurzer Zusatz von A.:
Eine kurze kontextuelle Betrachtung der von Stud. Theol. gewählten Stelle birgt wirklich interessante, innerschriftliche Assoziationstiefen. Den Zweifel des Thomas jedoch in irgendeiner Form als in sich selbst positiv darzustellen ist, wie schon gesagt, jedoch keine von ihnen.
Zunächst weist der Bericht auf die Allwissenheit Jesu hin. Denn Jesus zitiert Thomas mit seinen eigenen Worten (die in seiner Abwesenheit ausgesprochen wurden) auch in dem hier beleuchteten Punkt: Thomas sagte bis er die bekannten haptischen Informationen selbst habe οὐ μὴ πιστεύσω – ou me pisteo – würde er nicht glauben, mit einer doppelten Verneinung. Nun befiehlt ihm Christus sich die Beweise zu nehmen, die er verlangt und – μὴ γίνου ἄπιστος ἀλλὰ πιστός – me ginou apistos alla pistos – nicht mehr unglaubend zu sein sondern glaubend.
Auch dem Tauben befahl Christus Hefata!, nachdem auch hier die körperlichen Aspekte der Berührung, ja des Speichels, vorhanden waren. Christus heilt den Unglauben des Thomas mit seinem Wort und seinem Leib, mit seinen eigenen Wunden. Eine materialistisch-juristische Auslegung bleibt hier nur an der Oberfläche – Thomas hat jetzt die Beweise, die er wollte und sein Verstand ist zum Glauben hin besänftigt worden. Nein, wie Luther sagt, Gott ist gnädig und gibt dem Menschen was er braucht: der Glaube muss sich auf etwas beziehen und für Thomas wie auch für uns ist es der auferstandene Christus in der unmittelbaren Tatsächlichkeit seines lebenden Körpers, der die Todeswunden trägt.
Und wem regt sich bei dieser Betrachtung nicht die Erinnerung an die Worte: „Dies ist mein Leib“. Nicht nur Thomas befiehlt Christus den Glauben durch die körperliche Anteilnahme an seinem Leib und erschafft ihn dabei selbst. Auch uns zu uns spricht er „Nimm hin, iss, trink – me ginou apistos alla pistos“. Mögen wir mit Thomas antworten: o kyrios mou kai o theos mou – mein Herr und mein Gott – jetzt und in Ewigkeit.
Anmerkungen:
1: Vgl. O. Bayer, Martin Luthers Theologie, 3. Aufl., Tübingen 2007, 22: „Theologe ist nur, wer erkennt, was an der Zeit ist: ob es Zeit des Gesetzes (tempus legis) oder des Evangeliums (tempus euangelii) ist.“ Dort Verweis auf WA 40 I, 209, 16-23; 526, 21-31; 527, 21-27.
2 Vgl. bei Luther WA 43, 525, 3-19; auch WA TR 4, 666, 8f.
Vor γίνου ἄπιστος ἀλλὰ πιστός fehlt ein μὴ, sonst ergibt das Zitat keinen Sinn.
Danke für den Hinweis!
Gesetz und Evangelium bedingen sich- auch wenn es für viele skandalös klingt- gegenseitig, denn ohne ein Gesetz wäre das Evangelium unnötig oder unser Heil wäre nur von dem Etikett Christ abhängig, so dass wir eine billige Gnade hätten. Auch Paulus sah das Gesetz somit als gültig und wichtig an, auch wenn er betonte, dass die Gerechtigkeit, welche Gott und sein Gesetz fordert, nur als ein Glaubensgeschenk erworben werden kann und daher niemand sich selbst heiligen kann durch das Halten der Gebote
Bestritten wir das nur von solchen , die seine Aussagen nicht verstehen, weil sie bestimmte Aussagen aus dem Kontext reißen und mit menschlichen Theorien vermengen. Sagte nicht Paulus im Römerbrief, dass allein der Täter und nicht der Hörer des Gesetzes gerecht ist, ? [gekürzt, Redaktion, da nicht nachvollziehbarer Link]
Lieber „ein christ“, vergleiche dazu gerne einen unserer Beiträge, z.B.: http://lutherischeslaermen.de/2016/02/05/dr-m-luther-warum-das-gesetz-nicht-v-a-ueber-unser-verhalten-sondern-ueber-unsere-identitaet-spricht-und-warum-das-evangelium-ein-kauf-eins-krieg-vier-angebot-ist/