„Die Einheit der Lehre ist das Band der Einheit der lutherischen Kirche auch in dem Wechsel der Zeiten.
In diesem Satze, teure Brüder, sind wir alle eins, und es kam mir nicht in den Sinn, Ihnen damit etwas Neues sagen zu wollen. Ich habe diese Betrachtung nur vorausgeschickt, um nun daraus die praktischen Konsequenzen zu ziehen für die Stellung, welche wir gegenüber den Gefahren, welche unsre Kirche bedrohen, einzunehmen haben.
Den Satz der Lehreinheit stellen wir entgegen den Forderungen der Lehrverschiedenheit und der Lehrwillkür in der Kirche. […] Welches ist aber die Folge aus diesem Prinzip der Lehrverschiedenheit? Der Natur der Sache nach keine andere als die, dass die Gemeinden zuerst irre und dann gleichgültig werden gegen alle Lehre, weil sie aus einem so verkehrten Zustand der Dinge in der Kirche den Eindruck gewinnen müssen, dass auf die Lehre nichts ankomme. Und das letzte Resultat ist dann notwendig dies, dass der Grundsatz der Lehrverschiedenheit sich zum Grundsatz der schrankenlosen Lehrfreiheit entwickelt und so denn diese Union der Richtung des sogenannten Protestantenvereins die Wege bereitet. […]
Der Protestantenverein hat die protestantische Freiheit auf seine Fahne geschrieben. Aber er treibt Mißbrauch sowohl mit dem Namen des Protestantismus als mit dem der Freiheit. Protestanten heißen wir, weil wir in Glaubenssachen die Autorität der Majoritäten verwerfen. Jene aber nennen sich Protestanten, weil sie mit ihrem sogenannten Gemeindeprinzip die jeweilige Majorität in Glaubenssachen für entscheidend erklären. Wie der Papst durch Majoritätsabstimmungen neue Dogmen macht, so schaffen diese Protestanten durch Majoritätsabstimmungen alte Dogmen ab. Und wenn sie von der Freiheit reden, so ist die Kehrseite ihrer Freiheit die Tyrannei. Denn alle Meinungen, auch die negativsten, können sie tragen; nur das was man Orthodoxie nennt nicht.
Es ist das Joch des Unglaubens, welches die Gemeinden sich gefallen lassen müssen von denen, welche ihnen die Freiheit verhießen. Das Resultat aber ist das Ende der Kirche. Denn was dann übrig bleibt ist keine Kirche mehr. Die Kirche ist eine Gemeinschaft der Bekennenden und nicht eine Schule der Suchenden oder ein Tummelplatz der Streitenden oder ein Haufe von Verneinenden. Wenn die Kirche nicht mehr das Zeug hat die Fragen zu beantworten, sondern nur Fragen zu stellen, nicht mehr den Muth die Fragenden zu bescheiden, weil sie nicht mehr die Gewissheit hat die Wahrheit zu besitzen und die Lehrerin der Völker zu sein – was will sie dann überhaupt noch? Dann mag sie abdanken zu Gunsten etwa der Philosophie und der Herrschaft der Schulen weichen. Das ist aber dann das Ende des Christentums, wenigstens des Christentums der Apostel Jesu Christi.
Darum also, weil der Bestand der Kirche auf ihrer Lehre ruht und das Band der Kirche in der Einheit der Lehre besteht, verwerfen wir den Grundsatz der Lehrverschiedenheit und der Lehrwillkür in der Kirche. – Aber wir haben es nicht bloß mit diesen Richtungen zu thun. Sie haben sich bestehender Institutionen bemächtigt, mit deren Hülfe sie uns bekämpfen. Diese Institutionen sind der Summepiskopat und die Synoden. Der Summepiskopat steht mehr im Dienste der Union, der Synoden sucht sich mehr dieser falsche Protestantismus zu bemächtigen. Aber wie die protestantenvereinliche Richtung die Union nur benutzt, um sie dann über Bord zu werfen, wenn sie ihre Diente getan hat, so regt sich in den Synoden die Tendenz, den Summepiskopat nur zu benutzen, um ihn dann zu beseitigen. Dort wie hier ist der Eine der Erbe des Andren.
Es sind nicht die Institutionen die wir bekämpfen, sondern nur das falsche Prinzip das sich ihrer bemächtigt. Dies falsche Prinzip ist die Verweltlichung der Kirche. Man betrachtet und behandelt die Kirche wie eine Institution des natürlichen Lebens, sei es dass man den Maßstab der staatlichen Interessen an sie anlegt und sie wie einen Bestandteil des Staatsorganismus ansieht, sei es dass man sie nach den vermeintlichen Forderungen des natürlichen Kulturlebens misst und sie auf die Wahl und Entscheidung der Menge, statt auf die Offenbarung Gottes gründet und so ihr eigenstes geistliches Wesen vernichtet. Mit der Verstaatlichung der Kirche hat man angefangen, aber mit der Verweltlichung hört man auf; so gut, wie man mit der Union angefangen hat und mit dem Protestantenverein aufhört. Wollen wir das geistliche Wesen und Charakter der Kirche retten, so müssen wir das Prinzip der Lehreinheit zu unsrer Forderung machen, wie es durch die Tatsache gefordert ist, dass die Kirche nicht dem Staat und der Kultur ihre Entstehung verdankt, sondern durch Wort und Glaube sich erbaut.
Aus: „Die Bedeutung der Lehreinheit für die lutherische Kirche in der Gegenwart.“, Vortrag gehalten auf der Allgem. luth. Konferenz zu Leipzig 1870 in „Gesammelte Vorträge“