Dass Ulrich Parzany unzufrieden ist mit der Mitgliederzahl des Netzwerks Bibel und Bekenntnis, ist eines von vielen Zeichen, und bei Weitem nicht das deutlichste, das zeigt: Die fromme Protestkultur innerhalb der Kirche steht vor einem Problem. Man könnte es auch folgendermaßen benennen: dafür, dass man so oft Bibel und „Bekenntnis“ beschwört, streitet man erstaunlich viel über Ethisches und erstaunlich wenig über Glaubensinhalte. Um sexualethische Fragen bilden sich ganze Bewegungen. Bei öffentlicher Leugnung spezifischer Aussagen des Apostolikums dagegen gibt es dann vielleicht mal einen Brief, der mit „Lieber Bruder“ anfängt. Sagen wir es doch einmal polemisch: Jeder, der einen Leugner der Gottmenschlichkeit Christi, also einen Leugner der Trinitätslehre, Bruder nennt, spuckt Athanasius ins Gesicht.
Manifestiert hat sich diese Diskrepanz zum Beispiel im Jahr 2016, als bezüglich der Auferstehungsleugnung durch den leitenden Bischof der VELKD, Ulrich, nur ein einzelner klarer Protest mit praktischen kirchenpolitischen Konsequenzen stattfand: Dem Kanzelentzug des Pfarrers D. Jochen Teuffel folgten keine vergleichbaren Handlungen anderer Pfarrer der VELKD. Auch rief kein kirchliches Werk zu einer Imitation der Handlung des Bayern auf. Die Bibel ist uns ja so wichtig, „Ist Christus aber nicht auferstanden, so ist euer Glaube nichtig,“ dann aber doch nicht? Natürlich wissen wir, wie ernst Paulus die Korinther wegen sexueller Ethik ermahnt. Allerdings: „anathema“ ist selbst ein Engel, wenn er ein falsches Evangelium predigt.
Was könnte die Ursache für diese Einseitigkeit sein? Sicher, unsere Zeit ist stark auf ethische Freiheiten und ethische Grenzen konzentriert. Der Philosoph Alexander Grau hat vor einiger Zeit ein paar interessante Sätze formuliert, die auf diese Situation bezogen werden können. Besonders ein Absatz aus dem Interview lässt nachdenken:
Main: Herr Grau, Sie schreiben wörtlich: „Moral ist unsere Religion, Moralismus wird zum Religionsersatz.“ Welche Folgen hat das für die Religion?
Grau: Für die Religion hat das unter Umständen verhängnisvolle Folgen. Wenn Sie beispielsweise die Kirchentage der evangelischen Kirche verfolgen: Es gibt ja sehr, sehr viele Menschen, die dieses politisierte Angebot gerne annehmen. Aber wir kommen ja trotzdem nicht drum herum festzustellen: Die Kirchen sind weitestgehend leer. Viele Menschen hadern damit. Die sind nicht alle unreligiös. Die sind nicht alle an religiösen Fragen komplett desinteressiert.
Aber was sie stört, ist häufig gerade diese Politkirche, diese hochmoralische Kirche. Und eigentliche Sinnfragen, eigentliche religiöse Fragen werden ausgeklammert. Und das ist, glaube ich, tatsächlich eine große Gefahr. Wir sehen das ja sonntags an den Besucherzahlen in den Kirchen.
Main: Da muss ich jetzt aber positiv nachfragen. Was ist denn das Eigentliche, was in diesen Politkirchen – so Ihre Formulierung – und was von der Moral verdrängt wird? Was ist das Eigentliche?
Grau: Nun, der Kern von Religion sind ja erst mal ganz individuelle Sinnfragen. Was ist mein Leben? Was macht mein Leben sinnvoll? Wie bin ich gerechtfertigt vor Gott? All diese sehr existenziellen Fragen, die jeden Einzelnen umtreiben, das sind meiner Meinung nach die Kernfragen der Religion. Erst in einer zweiten Linie, wenn überhaupt, kommen dann gesellschaftliche Fragen.
Nun spricht Grau im Interview vor allem über die Politkirche, die Kirche der Kirchentage, er hat also eine politisch links stehende Moralismushegemonie im Blick. Von dieser grenzen sich die „Frommen“ oder Konservativen der Kirche natürlich gern ab. Ein Blick auf die Diskussion der konservativen Kreise der Kirche zeigt allerdings, dass sie im selben Moralismus gefangen sind, nämlich in der Beantwortung – mit den entgegengesetzten Aussagen – immer gleicher Fragen. Dies ist zum Teil seit Jahrzehnten der Fall. In der Außenwahrnehmung werden ihre Antworten auf Sinnfragen gar nicht mehr wahrgenommen – weil sie sie selbst gar nicht mehr in den Fokus stellen. Die Konservativen versuchen, Boden auf dem Feld des moralischen Diskurses zu gewinnen. Dahingestellt, dass die ethischen Problemstellungen sich natürlich auch auf Dogmatik gründen, z.B. auf das Schriftverständnis – in ihrer derzeitigen Handlungsausrichtung sind auch die konservativen Pole Teil einer Verschiebung weg von der Kernfrage des Christentums zu gesellschaftspolitischen, ja, zu existenziell-materialistischen Fragestellungen. Sie sind Mitverursacher, Aktion und Reaktion zugleich. Was sie thematisieren, behandeln, verdammen und zur Norm setzen sind moralische Probleme und Lösungen.
Doch wenn das Christentum keine grundexistenziellen, zutiefst philosophischen, eben theologischen Aussagen mehr treffen oder verteidigen will, dann hat es nichts mehr zu sagen! Und dann wird jede ethische Frage zum leeren Moralismus. Die Inhalte der christlichen Glaubenslehre gelten entweder allen Menschen zu allen Zeiten oder keinem Menschen. Ethische Fragen und Antworten, auch schwere, haben ihre klare Berechtigung. Diese ziehen sie aber aus der Schrift, weil die Schrift das Zeugnis Jesu ist, und den Bekenntnissen, weil sie bezeugen, wie die Schrift zu verstehen ist. Und deshalb münden die ethischen Diskussionen so schnell beim Schriftverständnis. Und warum folgte dann so oft nichts mehr? Weil aus gravierenden theologischen Unterschieden keine klaren praktischen Konsequenzen gezogen wurden. Und so können wir nicht über Lehrinhalte reden, denn so dreht man sich da nur im Kreis: „Nein! Doch! Ohhh!“
Konkret also: Nur wer so vehement die Rechtfertigung allein aus Gnaden predigt, die Gottheit Christi verteidigt und das Mysterium der Sakramente hochhält, wie er über seine geliebten Moralfragen predigt, kann auch in ethischen Fragen klares Zeugnis geben. Und das bedeutet, dass zunächst die evangeliumsgemäße Lehre und die richtige Sakramentsspendung im Mittelpunkt stehen müssen. Und, dass gegenüber der Institution und den Amtsträgern, wo dies nicht der Fall ist, klare Worte und Taten folgen.
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