Letzte Woche entriss sich uns ein Artikel zum derzeitigen Zustand der VELKD. Während der Nachforschungen sammelte sich –fast unumgänglich – einiges Material zur EKD an, das ebenso danach drängt bedacht zu werden. Zu Grunde liegt vor allem ein beachtenswerter Text des Leiters der Rechtsabteilung des Kirchenamtes der EKD, Dr. Christoph Thiele.
1948 als „Bund lutherischer, reformierter und unierter Kirchen“ gegründet (also eigentlich als BEKD), lautet die Grundordnung der EKD seit 1991: „Die Evangelische Kirche in Deutschland ist die Gemeinschaft ihrer lutherischen, reformierten und unierten Gliedkirchen.“ Hier lohnt es sich genau hinzuhören. Sie ist nicht „eine Gemeinschaft von lutherischen, reformierten und unierten Gliedkirchen“ denn der inhaltliche Mehrwert geht bei dieser Neuformulierung gen Null. Ein Bund ist vielleicht formeller und beinhaltet noch stärker die Möglichkeit der Wiederauflösung als das fraternisierende Wort Gemeinschaft, mehr lässt sich aber nicht herausholen.
Was genau vermittelt die besagte Neuformulierung also? Halten wir es uns noch einmal vor Augen: Die EKD „ist die Gemeinschaft ihrer lutherischen, reformierten und unierten Gliedkirchen“. Sie ist also nicht das bloße Ergebnis eines Zusammenkommens von individuellen Einzelteilen, eine Gruppe nämlich. Sie ist selbst – an sich – „Gemeinschaft“, und zwar nicht aus dem luftleeren Raum heraus. Nein, vor dem inneren Auge formt sich das Bild von einzelnen Entitäten, die unter einem stürmischen Nachthimmel zusammentreten. Sobald sie dies tun beginnt aus ihnen etwas auszuströmen, ein leuchtender Nebel, der sich ballt, sich sammelt und zu etwas ganz Neuem, über der Gruppe schwebendem, wird. Genitum non factum – es ist nicht der bloßer Bund, der da noch grau am Boden steht. Mit Hilfe der von ihm losgelösten Eigenschaft des Gemeinsam-Seins ist etwas Neues aus ihm hervorgegangen, mehr (und besser) als die Summe seiner Teile.
Ein wahrhaft poetisches Bild, das nicht nach der Möglichkeit oder gar der unterliegenden Folgerichtigkeit seiner selbst fragen muss. Es ist, es soll, es will sein – und somit ist es. Diese Art der poetischen Tatsachenbestimmung – Bestimmung, nicht Suche – scheint inzwischen unter Theologen verbreitet zu sein. In einem Vortrag über die Bekenntnisbestimmtheit der sächsischen Landeskirche beschwört OLKR Thilo Daniel, zum Beispiel, ein dichterisch – besonders in seiner Form – ansprechendes kirchenhistorisches Bild von einer „konfessionellen Widerständigkeit“ aus der jedoch – so folgerichtig wie unerwartet – stets eine unverhoffte „Offenheit“ hervorbricht. Eine schöne, dynamische Figur, deren Einzelteile sich, bei näherer Betrachtung, jedoch entweder als Beispiele fehlender Prinzipientreue oder rückständiger Borniertheit entpuppen müssen. Doch was bleiben soll, was scheinbar wichtiger ist, ist die Schönheit der Form, der natürlich auch der schöpferische Wille zugrunde liegt – Wille zur Gestaltung und Wille zur Macht.
Ich kenne diese Art des Denkens gut aus dem philosophischen Teil meines Kunststudiums. Diese Schönheit ist eben die des schwebenden Signifikanten oder auch des freien Signifikanten der Postmoderne. Das seiner eigentlichen Bindung in die Bedeutungsstruktur entledigte Wortzeichen kann ganz neue Bindungen eingehen oder in seiner potentiellen Vielfalt strahlen, ohne sich über Inhalte oder Zusammenhänge sorgen zu müssen. Über Lacan endet das bei Deleuze, der in seinem Anti-Ödipus in extremer und absichtlich abstoßender Poetik Schizophrenie als existenzielles antikapitalistisches Ideal heranzieht. Über die Sinnhaftigkeit solcher Praktiken für eine an ihr außenstehender Wahrheit interessierte Theologie muss man eigentlich nicht streiten. Doch genau dieses Interesse scheint abhandengekommen zu sein. Hören wir noch einmal in den Text:
„Maßgebend die Arbeit im Theologischen Ausschuss der VELKD hat mit Bezug auf die Leuenberger Konkordie deutlich gemacht, dass die EKD ihre ekklesiale Funktion als „Kirche“ gerade darin erfüllt, dass sie aufgrund der gewonnenen Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums (Artikel 29 Leuenberger Konkordie) für die Einheit in der bleibenden Vielfalt der Bekenntnisse der Gliedkirchen einsteht, weshalb sie, die EKD, gerade nicht selbst eines dieser vielfältigen Bekenntnisse zu ihrer Bekenntnisgrundlage erklärt. Die EKD ist als Gemeinschaft ihrer Gliedkirchen – und nur so – selbst Kirche. Mit dieser theologischen Erkenntnis hat sich die EKD über die komplizierten Lehrgespräche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinaus als „Kirche“ im vollen theologischen Sinn erwiesen.“
Mindestens dreimal wird dieser Punkt im Papier wiederholt. Interessant auch, dass das Wort Kirche in Anführungszeichen gesetzt wird. Rufen wir uns ins Gedächtnis, was Kirche ist: für die katholische Kirche z.B. ist Kirche jene weltliche und geistliche Institution, v.a. verkörpert im Lehramt, die von Christus selbst und in der Berufung Petri als Fels der Kirche eingesetzt wurde. Für die Lutherische Kirche ist die Kirche bedingt durch die Verkündigung der reinen Lehre Jesu Christi, besonders des Evangeliums und der daraus folgenden und dadurch bestimmten Verwaltung der Sakramente (Taufe, Abendmahl und in gewissem Sinne auch Beichte). Beide Beispiele beziehen sich direkt auf eine Offenbarungsinstanz, nämlich auf Christus und auf eine Erkenntnisinstanz jener Offenbarung: bei der katholischen Kirche das Lehramt, bei der lutherischen Kirche die Bekenntnisschriften.
Die EKD gibt vor, keine Erkenntnisinstanz als Grundlage zu haben, die mit denen ihrer Gliedkirchen (auch sie haben Bekenntnisse oder lehnen zumindest die der anderen ab) in Konkurrenz treten würden. Doch die Sprache des Textes zeigt klar, dass sie einen offenbarungsgleichen Erkenntnismoment zu ihrer Legitimierung herbeizieht, nämlich jene „gewonnene Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums“ die die Leuenberger Konkordie für sich in Anspruch nimmt. In diesem Sinne hat sie also einen Glauben, den sie vertritt und bekennt: Nämlich, dass es trotz „bleibender Vielfalt“ eine „Einheit“ geben muss, und damit also das Leuenberger Credo der zu vernachlässigenden Unterschiede.
Natürlich gibt es die „ekklesiale Funktion“ des Einstehens für Einheit nicht[i]. Eine Kirche ist eine Gemeinschaft von Gläubigen, d.h. sie ist definiert von dem Inhalt, der geglaubt wird, und den Konsequenzen, die sich aus jenem Glauben ergeben. Ist die EKD nur der Leim, der die Gliedkirchen zusammenhalten soll oder ihr Dachverband oder ihr PR-Büro, dann ist sie eben keine Kirche. Kirche ist sie nur, wenn sie etwas glaubt und verkündet, dann jedoch steht sie auf einer Ebene mit ihren Gliedkirchen und muss ihr Credo mit deren Bekenntnissen messen lassen; dann kann sie nicht „deren Gemeinschaft“ sein. Und wie selbst die lutherischen Mitbegründer der EKD wussten – dieses Credo ist nicht das lutherische und ist mit ihm nicht vereinbar. Was nicht vereinbar ist, muss, wenn es zusammentrifft, notwendigerweise in Konflikt treten. Wo jedoch kein Konflikt mehr ist, da hat eines seine eigenständige Existenz aufgegeben und ist in das andere übergegangen.
Lutherische Kirche muss stets die Frage treiben: Was ist das reine Evangelium? Und wird es von mir verkündet? Ist dies das wahre Blut und der wahre Leib Christi, wie verwalte ich diese? Wer empfängt sie zum Heil? Wenn diese eine Taufe das Wasser der Wiedergeburt ist, das uns rettet, verwalte und verkündige ich sie auch so? Und ebenso muss sie Antworten, die diese Fragen entwerten wollen, verwerfen. „Bildet sich aber jede kirchliche Gemeinschaft von je und zu allen Zeiten durch das, was sie als den Inhalt der heilbringenden Offenbarung im Worte ansieht und bekennt, so kann sie das, was sie ist, nicht bleiben, wenn sie bloß sich zu der höchsten Norm ihrer Überzeugung bekennt, das aber, was ihre daraus abgeleitete Überzeugung ist, verschweigt oder jedem frei lässt.“ – von Harless
[i] Und man muss sich ernsthaft fragen, ob dieses Fehlverständnis nicht auch an der Wurzel der VELKD – einer lutherischen Kirche, die trotzdem aus Gliedkirchen bestand – liegt, ja, wie oben sichtbar von ihr aus überhaupt erst in das Denken der EKD Eingang fand.