Wir haben einen Fund gemacht, dank Google Books! Bereits vor reichlich hunterfünzigJahren lautete das Lieblingsargument gegen lutherische Lehren „nicht mehr zeitgemäß“. So richtig innovativ aber sind die Kritiker, das kann man an den folgenden Zeilen erkennen, in letzter Zeit nicht gewesen. Interessant ist allerdings dann doch, was der anonyme Verfasser der Protestschrift gegen die Wahl von Harleß ins Amt des Predigers zu St. Nikolai in Leipzig alles zusammenträgt, welche Voraussetzungen des Kirchenwesens er erkennt. Auch wenn er selbst wohl eher einem zeitgenössischen „Liberalem Protestantismus“ anhing, von seiner (negativen) Beschreibung dessen, was eine lutherische Kirche ausmache, lässt sich auch für heutige (selbsternannte) Lutheraner noch etwas lernen
Oft wird im folgenden die Vereidigung auf die „symbolischen Bücher“ das heißt auf die lutherischen Bekennsnisschriften erwähnt. Diese ist in der damaligen Zeit vorm am Anfang der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts abgeändert worden, auch mit Unterstützung der orthodoxen Lutheraner, um einer rechtlichen Verfolgung Andersdenkender Einhalt zu gebieten. Innerhalb z.B. der sächsischen Landeskirche besteht diese Vereidigung noch und ihre hier benannten Konsequenzen wohl ebenso. Welche Reaktionen man darauf in sich beobachten kann, hängt wohl davon ab und zeugt davon, ob man selbst eher zum Kreise der Verfasser dieser Schrift oder jenes Nikolaipfarrers zählt. Hier also ein paar Ausschnitte aus:Leipziger Protest gegen die orthodoxe lutherische Kirche und Dr. Harleß von 1847
Es gibt Ereignisse im Leben, die klarer als viele Worte die Unhaltbarkeit unserer gesetzlich bestehenden kirchlichen Zustände darthun und Alle, die sehen wollen, überzeugen, daß wir nicht mehr die alte Kirchengemeinschaft sind, die das Augsburger Glaubensbekenntniß und die Konkordienformel als ihr Bekenntniß annahm. Wir sind es nicht mehr, [auch] wenn wir es gesetzlich sein sollten. Unzählige aber wissen gar nicht, was sie als Glieder der lutherischen Kirche eigentlich sein und glauben sollen und richten sich nicht darnach, wenn sie’s wissen.
In Preußen ward der aus der Landeskirche hinausgedrängte Rupp in Berlin ausgeschlossen von der Verhandlung des Gustav-Adolf-Vereins; Wislicenus in Halle ist vom Kirchenregimente abgesetzt, Balzer hinausgetrieben und Uhlich in Magdeburg soll das gesetzlich vorgeschriebene Apostolikum gebrauchen oder ausscheiden. In Preußen und Sachsen verbot man die Versammlungen der protestantischen Freunde und in Sachsen ward ganz vor Kurzem der Superintendent Bräunig in Zwickau von einen öffentlichen Amte entfernt, weil er vor zwei Jahren die Petition um Erlaß des Eides auf die symbolischen Bücher unterschrieben hatte. Sachsen berief den streng orthodoxen Professor Harleß vor einem Jahre aus Baiern an die Leipziger Universität als Professor, und in diesen Tagen ward derselbe Dr. Harleß vom Leipziger Stadrath zum Pastor an der Hauptkirche St. Nikolai berufen!
Leider haben die protestantischen Kirchenhäupter nur Vertrauen zu der kirchlichen Orthodoxie; sie glauben nur regieren zu können unter der Autorität der Symbole und der Glaubensuniformität der Kirche; sie wissen nichts von der starken Gesetzlichkeit freier christlicher Geister und finden den Weg zu lang und zu schwer und zu kostspielig, um solche freie, sich selbst bestimmende Geister heranzubilden. Man meint, beim Zerfallen des Alten am Abgrunde der Anarchie, der Negation aller Religion zu stehen und untergräbt durch Halten überlebter alter Zustände, an deren Ewigkeit und Wahrheit und Gerechtigkeit man selbst nicht mehr glaubt, die öffentliche Moral und die Achtung vor der Religion und Kirche! Man fürchtet durch Verbesserungen, durch Rütteln am Alten, dem antichristlichen Radikalismus und Atheismus Raum zu geben und arbeitet ihm doch gerade durch Unterlassen nötiger Verbesserungen in die Hände! Man will freiwillig keine Concessionen machen und läßt sie sich durch Zwang entreißen! Man versäumt durch weites Nachgeben gegen die öffentliche Meinung, sie zu gewinnen und gibt oft erst nach, wenn’s zu spät ist!
Soll die Gegenwart abermals es erfahren: daß die alte Kirchenlehre, gegen welche Philosophie und Vernunft des neunzehnten Jahrhunderts sich sträuben, das gesetzliche, von allen Lehrern der evangelisch-lutherischen Kirche in allen Kirchen und Schulen, auf allen Kathedern zu lehrende Christenthum ist. Wer Anderes lehrt und Anderes glaubt, als Luther und die Symbole der lutherischen Kirche, der ist kein evangelisch-lutherischer Christ, kein evangelisch-lutherischer Geistlicher; das sächsische Volksblatt sagt das täglich allen Lichtfreunden, Rationalisten und denkenden Christen! Ob Einer auch nach seiner Überzeugung das Christenthum geistiger zu erfassen, philosophischer zu begründen, auch für Denkende genügend darzustellen versteht, – es muß ihm das Kirchenregiment von Rechtswegen jede Kanzel verschließen, jede geistliche Amtsführung verwehren und ihn, wenn er im Amte ist, vom Amte entfernen – so lange die alten Kirchen-Gesetze und der Eid auf die Symbole bestehen.
Das sächsische Kirchenregiment hatte und hat nicht bloß das Recht, sondern die Pflicht, alle auf die Symbole ausdrücklich vereideten Geistlichen zu zwingen, „bei der reinen evangelischen Lehre, wie solche in den Bekenntnisschriften unserer Kirche erklärt und dargestellt ist, zu verbleiben, sie unverfälscht und fleißig vorzutragen.“ Wer die Schriftlehre anders darstellt und erklärt, als die Bekenntnisschriften tun, den muss das Kirchenregiment von Rechtswegen aus der lutherischen Kirche hinausweisen. Die Kirchengewalt hat das Recht und fängt an, es zu gebrauchen. Hat sie zeither hie und da anders gehandelt, so that sie Unrecht – Unrecht wenigstens insofern, als sie Gesetze fortbestehen und gewähren ließ, über deren Haltung sie nicht wachte! Auch das sächsische Kirchenregiment war zeither so vernünftig, so christlich, so klug, nicht nach den Gesetzen der Kirche, nicht nach den Verordnungen der Minister zu handeln. Es wollte und konnte nicht drei Vierteile der Prediger und Lehrer absetzen, die nicht mehr nach den Bekenntnisschriften lehrten. Es mussten ja, so lange die Universitäten und Seminarien so unkirchlich, so freisinnig-christlich waren, in und außer Sachsen unzählige nicht lutherische, gegen oder doch nicht für die Symbole lehrende Geistliche angestellt und in ihren Ämtern gelassen werden, da es an orthodox-lutherischen Lehrern fehlte. Allein das beweist doch klar und deutlich, daß die Grundsätze nicht vernünftig, nicht christlich, nicht weise sein können, nach denen ein vernünftiges, christliches, weises Kirchenregiment nicht zu handeln wagt!
Deshalb, weil das sächsische Kirchenregiment von der ihm gesetzlich zustehenden Gewalt keinen konsequenten Gebrauch machte weil es ein Auge zudrückte und geschehen ließ, daß in Kirchen und Schulen ein freies, vernünftiges, – nicht streng lutherisches, nicht starr symbolisches – Christenthum gelehrt werde, hat man in Sachsen nicht gewußt, was Recht und Gesetz und Kirchenlehre der lutherischen Kirche ist.
Man hatte zeither das Bessere; man hörte ja zumeist ein reines, auch den Denkenden zusagendes Christenthum von fast allen Kanzeln predigen. Die ersten christlichen Behörden Sachsens selbst bemühten sich ja durch Wort und Schrift, Ammon durch seine „Fortbildung des Christenthums etc.“, Käuffer durch seinen „Jesus Christus unser Vorbild etc.“ – eine vernunftgemäße Fortbildung des Christenthums zu befördern und die lutherische Kirchenlehre theoretisch hier als unbiblisch, dort als vernunftwidrig zu erweisen. Man hatte in Sachsen das Bessere, und wer von Reinhardt an die in Sachsen gedruckten Predigten liest, wird, außer etwa Rudelbachs, wenige lutherisch-orthodoxe finden. Was kümmerte es Tausende, dass sie kein Recht hatten, dieses Bessere zu haben?
Die Kirchenlehre aber ist keine wächserne Nase, die man so und so drücken kann; sie läßt nicht mit sich markten und handeln. Wer nicht mit ihr ist, nicht voll und ganz am Bekenntnis hält, ist wider sie, gehört ihr nicht an. Die Kirchenlehre ist exklusiv, ist intolerant und muss es sein; denn sie behauptet, die allein wahre und die allein selig machende zu sein.
Echte Lutheraner müssen [ihre Kirchenlehre die alleinseligmachende nennen], denn eins ihrer Hauptsymbole, das ökumenische uralte athanasianische Bekenntnis, sagt klar und deutlich: „Wer da will selig werden, der muss vor allen Dingen den rechten christlichen Glauben haben. Dies ist aber der rechte christliche Glaube: dass wir einen einzigen Gott in drei Personen und drei Personen in einziger Gottheit ehren etc. (Folgen die subtilsten Bestimmungen über Wesen und Unterschied der drei Personen). Wer diesen Glauben nicht ganz und rein hält, der wird ohne Zweifel ewiglich verloren sein.“ Niemand hat, so viel bekannt, diesen Hauptsatz des ersten Symbols der lutherisch-orthodoxen Kirche auf sächsischen Kanzeln und Universitätskathedern vorzutragen gewagt. Alle denkenden Christen würden sich dagegen erklärt haben, wie Rupp in Königsberg, der eben gegen dieses athanasianische Symbol gepredigt und, weil er nicht widerrufen wollte und konnte, von der Landeskirchenbehörde abgesetzt ward! Aber hätte man von Rechtswegen dieses erste, von allen Geistlichen und Lehrern beschworene Symbol, an dessen Annahme ewige Seligkeit oder Verdammnis hing, nicht allsonntäglich vortragen, nicht die Kinder als Erstes und Letztes lehren sollen? Gewiss, wenn man hätte konsequent sein wollen; man wollte aber nicht, entweder weil man selbst einen Glauben nicht hatte, den man gesetzlich doch nicht aufzugeben sich getraute, oder weil man sich zu schwach fühlte, einen Glaubenssatz gesetzlich zu halten, den man aufzugeben nicht stark genug sich wusste!
Werden wir lutherische Christen nur einmal uns klar, daß nicht bloß der Hauptsatz des Athanasianums vom alleinseligmachenden Glauben, sondern eben so sehr die trostlose Erbsündenlehre der Symbole überall und stets hätte gepredigt werden sollen, die Erbsündenlehre, nach welcher der natürliche Mensch nichts ist, als ein Klotz und Holz, unfähig zu allem Guten, ewiglich verloren und verdammt ohne das Opferblut des Lammes, das ihn rein wäscht, ohne den stellvertreten den Gehorsam des Gottmenschen, der an des gläubigen Sünders Stelle das gethan, was der Mensch nicht thun konnte!
Wo ist in Sachsen zeither streng nach den Bekenntnisschriften diese ganze Anselmische Stellvertretungslehre von dem gekreuzigten Gottmenschen und dem alleinseligmachenden Glauben an sein Blut gepredigt oder gelehrt worden? Wo die gänzliche Verderbtheit, wo die Augustinische gänzliche Verdienstlosigkeit aller guten Werke, die nicht aus jenem allein seligmachenden Glauben kommen? Wo die Weltverachtung und Menschenverachtung, die orthodoxe Entgöttlichung und Herabwürdigung der Erde als trostlosen Jammerthales, wo die Vernichtung menschlicher Selbstständigkeit und aller Menschenwürde, wie sie die Bekenntnisschriften unserer Kirche lehren?
Haben WIR – WIR diesen Glauben? NEIN, und abermals NEIN! Aber ein orthodoxer evangelisch-lutherischer Lehrer und Christ soll ihn gesetzlich haben; ein orthodox-lutherischer Prediger, wie Harleß, der in einer besonderen Schrift noch letzthin das Fortbestehen des Eides auf die symbolischen Bücher vertheidigt hat, Harleß muß die Kirchenlehre, die ganze unverfälschte Kirchenlehre aller beschworenen Bekenntnisschriften haben und predigen, – und er wird sie predigen. Ein orthodox-lutherischer Prediger kann nichts nachlassen, auch nicht ein Jota vom Bekenntnis der Kirche!
Ein wahrhaft christlicher Prediger stellt Geist und Bibel nicht unter die Kirchenlehre, sondern lebt und lehrt im Bewusstsein, den heiligen Geist auch zu haben, der in alle Wahrheit leitet; er weiß, dass ein Christ nicht notwendig das als Wahrheit anerkennen und in der Schrift finden muß, was Andre für Wahrheit in der Schrift gefunden haben. Ein Christ forscht nach der Wahrheit, aber behauptet nicht, die allein wahre und allein seligmachende Wahrheit in den Glaubensansichten eines Augustin, Luther oder Calvin schon für alle Zeiten gefunden zu haben und in starren Formeln zu besitzen. Ein Christ glaubt der Schrift, die da sagt, dass Menschen auf Erden stets nach der Wahrheit würden suchen müssen, bis sie die droben finden würden!
Die lutherische Kirche hat für alle Ewigkeit in ihren Bekenntnissen die allein wahren und allein seligmachenden Glaubenswahrheiten zusammengestellt; wer nicht bei ihnen bleibt, gehört nicht zu ihr. Um die Verfassung der Kirche, um die Einrichtungen des Gemeinschaftslebens – was die Hauptsache ist – kümmert sie sich nicht. Nur der rechte Glaube, rechte Lehre, rechte Verwaltung der Sakramente, ausschließlich Rechtgläubigkeit ist ihr Ziel. Sie ist intolerant gegen jede andere Kirche; wie sie die Reformierten bloß wegen abweichender Glaubensansichten verdammt hat, so schließt sie dieselben noch jetzt stets rechthaberisch von ihrer Gemeinschaft aus. Sie ist stets unduldsam gewesen, sie wird stets unduldsam sein, – sie muß als eine rechtgläubige Kirche unduldsam sein! –
Das ist Recht und Gesetz der lutherischen Kirche und daraus geht allerdings hervor, daß das Kirchenregiment eigentlich lauter solche Geistliche anstellen sollte, wie Dr. Harleß, diesen Vorkämpfer der lutherischen Orthodoxie. Alle Gemeinden werden es sich gefallen lassen müssen, vom Kirchenregimente nur orthodoxe Prediger zu erhalten, so lange wir eine nur auf die lutherischen Symbole gegründete Kirche haben. Erst wenn der gesetzliche Zustand oder Missstand gesetzlich aufgehoben sein wird und christliche, evangelische Gemeinschaftten, nachdem man ihnen das Gemeinschaftsrecht der Selbstregierung zurückgegeben, ihre Gemeinschaft auf andere Grundgesetze als die Bekenntnisschriften werden gegründet haben, erst dann werden den Gemeinden gesetzliche Mittel gegeben sein, ihr Gemeinschaftsleben so einzurichten, dass Orthodoxe und freisinnige Christen neben einander in Einer Kirchengemeinschaft leben können.
aus: Leipziger Protest gegen von Harless