Vor einer ganzen Weile schon haben wir über den ersten Sakramentsersatz geschrieben: Unserer Meinung nach das „Übergabegebet“, das den Anfangspunkt der Identität als Christ und den Grund Heilsgewissheit da ausfüllt, wo die Taufe, Ihrer Eigenschaft als gottgewirktes Sakrament theologisch beraubt, ihn hat räumen müssen. Doch nicht nur sie wird in den Denominationen, die aus dem radikalen Zweig der Reformation hervorgegangen sind, so behandelt.
Auch das Abendmahl ist, durch die Umdeutung zum reinen Symbol, bzw. (in Calvins Verständnis) zum Zeichen eines entrückten und rein geistigen, himmlischen Vorgangs, nicht mehr der Ort der größten und ehrfurchtseinflößenden Intimität mit dem lebendigen Gott, nicht mehr mir außenstehender Unterpfand der Sündenvergebung und des ewigen Lebens. Was aber ist an seine Stelle getreten?
Am eindeutigsten ist das in einer ganz spezifischen theologischen Richtung festzustellen: dem Pfingstlertum oder der charismatische Bewegung. Sie nimmt an sich ein Sonderrolle in der klassischen Kirchenlandschaft ein, da sie sich fast überall finden lässt, nicht nur in eigenen Gemeinden und Kirchen, sondern auch als Faktion in fast allen anderen Kirchen. Ihr Selbstverständnis ist, ohne das besonders zu reflektieren, repristinatorisch, d.h. man sieht sich als Vertreter des ursprünglichen Christentums, das dereinst verschwand und nun, durch Gottes besonders Handeln, wieder zu Tage tritt.
Der sich dem Selbst jetzt übernatürlich offenbarende Gott als Grundlage
Wie gesagt wird diese Identität jedoch selten reflektiert, da für das charismatische Selbstverständnis Geschichte nicht wirklich wichtig ist. Ihr epistemologisches Fundament ist der sich im Jetzt durch direkte Rede offenbarende Gott, der seine Existenz durch Wunder, Zeichen und – um ein Vielfaches öfter – durch innere emotionale Bewegungen und Eindrücke beweist.
Ein weitbekanntes Beispiel ist hier der ursprünglich aus London stammende Alphakurs. Wir begegnen ihm mit viel Respekt, ganz besonders, da die christlichen Glaubenssätze hier noch sehr stark vorhanden sind. Nach aller guten vorausgehenden apologetischen Arbeit ist der letzte und grundlegendste Beweis für die Existenz Gottes innerhalb eines solchen Kurses jedoch eben die sich dem Individuum direkt und emotional bzw. körperlich manifestierende Wirkung des Heiligen Geistes. Diese soll während eines speziell dafür bestimmten Wochenendes im Besonderen gesucht werden. Alle Einordnungen und Wissensvermittlung, die zuvor während der wöchentlichen Treffen zur Sprache kam, verschwindet somit in der Gleichung “Gibt es Gott, so spürst Du ihn.“
Der Umkehrschluss ist jedoch natürlich „Spürst Du ihn nicht, so ist er nicht.“ Und wer soll überhaupt entscheiden, wie diese Erlebnisse theologisch einzuordnen sind? Doch nur das Subjekt. Und so wird das es selbst – um im Bilde des Sakraments zu bleiben – zum Altar, auf dem sich Gott in übernatürlicher Weise manifestiert. Dies teilt die Bewegung mit dem rationalistischen und liberalen Christentum, obwohl es hier eher das denkende und urteilende als das erlebende und spürende Subjekt ist. Dazu vielleicht jedoch mehr in einem dritten Teil, zum Sakrament der Wortverkündung. Im Charismatismus zählt: das, was ich heute und jetzt erlebe, macht das vorhergegangene erst wahr. Mein Erleben von Reue und erlöster Freude zeigt mir, dass es diesen Jesus wirklich gibt, der mir Gutes will und das damals am Kreuz getan hat.
Der Lobpreis als liturgisches Ritual des göttlichen Erlebens
Als Ritual, als regelmäßige liturgische Punkt der größten Intimität im Gottesdienst, zeigt sich das nirgends so klar, wie in der sogenannten Lobpreiszeit. Hier begegne ich dem wahren Gott, oder bemühe mich zumindest, an seinem Offenbarungsort, nämlich in mir, in meinen Emotionen, im „tiefsten Grunde des Herzens“ wie es die mittelalterliche Mystik nennt, die viel mit dem Charismatismus teilt. Geleitet von der Musik, vom dort aufgebauten Spannungsbogen, bis in den „throne room“ wie mancher Lobpreisleiter das Ziel, den emotionalen Höhepunkt, nennen würde.
Lobpreis nimmt natürlich Bezug auf die lange Tradition des Singens als Ausdruck der Freude, des Danks, der Anbetung, der Bitte usw. Gottes. Die eigenen Glaubensemotionen in dieser Form auszudrücken, begegnet uns schon im zweiten Buch Mose (Mose-, Miriamlied) und natürlich prominent in den Psalmen. Auch im Neuen Testament kommt das Singen vor: Angefangen bei der Mutter Jesu (Lk 1) über die Apostel (Apg 16, 25) bis ans Ende (Offb 5,9). Immer wird es die christliche Gemeinde begleiten. Was bei all diesen Liedern der Fall ist: Sie sind gesungene Gebete. Sie drücken eine gläubige Beziehung zu Gott aus. Und wie das gesprochene Gebet sind sie nicht zu unterschätzen. Beten ist aktiver Glaubensausdruck.
Jedoch ist die heutige Form, die eine Lobpreiszeit nimmt, biblisch nicht nachweisbar. Das stetige Wiederholen bestimmter Passagen zum herbeiführen bestimmter emotionaler Zustände, die Zusage, dass Gott sich in solchen Zuständen, durch solches musikalische Handeln offenbaren werde, all dies ist ohne festen biblischen Grund. Besonders im neuen Testament und in den Worten Christi ist keine Grundlage für extatische gottesdienstliche Handlungen vorhanden. Paulus selbst ruft zur Ordnung im Gottesdienst.
Das Abendmahl als mir außenstehendes Versprechen der Begegnung mit Gott
Das Abendmahl wiederum nimmt natürlich Bezug auf das alttestamentliche Passahmahl, ist aber als solches erst im Neuen Testament eingesetzt – und zwar durch Christus. Es hat seinen klaren heilsgeschichtliche Verortungspunkt im letzten Mahl mit den Jüngern. Dort gibt Christus nicht nur den Befehl, es zu feiern, sondern auch die Verheißung, dass er im Abendmahl anwesend sein wird (das ist mein Fleisch). Das heißt: Egal, was wir tun, egal wie wir uns verhalten, egal wie wir uns fühlen: Das Abendmahl bleibt. Denn es geht nicht von uns aus. Seine Wirksamkeit liegt nicht an unserer Glaubensstärke. Es kommt von Gott. Und weil es nicht von mir abhängt, kann ich auf seine Wirkung auch dann vertrauen, wenn ich gar nichts dabei spüre. Ich bin mir unbedingt sicher: Im Abendmahl handelt Gott. Nicht, weil ich guten Wein bekommen habe, nicht weil die Hostien schön knackig sind, nicht weil ich besonders gekonnt aus dem Kelch getrunken habe – und vor allem nicht, weil die Stimmung so schön friedlich und feierlich war. Sondern, weil Gott es gesagt hat. Ich muss noch nicht einmal darauf Acht haben, ob der von der Kirche Eingesetzte, der das Abendmahl austeilt, es auch wirklich ernst nimmt. Denn die Wirkung hängt auch nicht von ihm, sondern nur von Gott und seinen Zusagen ab.
Natürlich ist das Abendmahl kein so gut inszenierbares Ereignis wie der Lobpreis. Meist gibt es keine Lichtshow, keine anheizende Musik, keine verzückten Gesichter, nur wenige Gesten. Der liturgische Ablauf des Abendmahls spielt kaum mit unseren Emotionen. Doch der Inhalt, mit glaubendem Herzen ergriffen, wirkt tiefe Berührung und Erfurcht. Der Schatz alter Kirchenlieder kann uns zeigen, wie tief dies Empfunden und in Worte gefasst werden kann. Auch die verschiedenen Communionbücher (von Delitzsch, Kaspar Melisander, Löhe) machen das deutlich und können uns Hilfestellung sein. Und so bleibt: Auch in einer immergleichen, etwas lahmen Variante in einer kalten Dorfkirche weiß ich: hier begegnet mir Christus, wahrer Gott und Mensch, leibhaftig.
Das Abendmahl ist im historischen Christentum, grob in orthodoxer, katholischer und der ursprünglichen lutherischen Kirche, der Moment der größtmöglichen Intimität mit Gott, mit Christus. Und hier entpuppt sich schon die notwendigerweise rückwärtig und transzendente Ausrichtung des ursprünglichen christlichen Glaubens: Christus kam, und er wird kommen und alles, was wir jetzt von ihm haben, von ihm wissen, ist direkt bezogen auf seine Worte und sein Handeln DAMALS. Nur über das Vergangene lebt auch unsere intimstes Erleben mit Gott heute.