Und unabhängig von den Versuchen des begrifflichen Denkens, das Geheimnis der Person Jesu völlig zu erschließen, ist der Glaube und das Bekenntnis der Kirche. Hierin sind die verschiedenen Kirchen eins. Die Lehrdifferenzen in dieser Frage sind von geringer Bedeutung gegenüber den Übereinstimmungen im Glauben. Die Christen aller Kirchen beugen gemeinsam ihre Knie im Namen Jesu.
Christoph Ernst Luthardt, Apologetische Vorträge über die Grundwahrheiten des Christentums, Zehnter Vortrag. Die Person Jesu Christi, Leipzig 1864, 185-220.
Heute soll es um die, für meine Begriffe, größte aktuelle Spaltung im Christentum gehen. Sie verläuft nicht in erster Linie zwischen Kirchenleibern, sondern ist ein großer epistemologischer Bruch, der die Grundlagen des Glaubens fundamental bestimmt und sich in Faktionen ausdrückt. Wie sich im weiteren Verlauf unseres Beitrags zeigen wird, hat wohl jeder, der mit verschiedenen Gläubigen gesprochen hat, schon einmal eine Variante des von uns beschriebenen Phänomens kennengelernt – unabhängig von der Kirche, in der er unterwegs war.
Obwohl wir ihn in die Reihe der Sakramentsersatzhandlungen eingefügt haben, ist dieser Post auch nah verwand mit der Selbstoffenbarung Gottes bei Atheisten. Hier stellten wir fest, dass auch jene, die eine Existenz Gottes verneinen, implizit an eine Selbstoffenbarung Gottes glauben – nämlich an eine fehlende bzw. ungenügende. In dieser ihrer Ungenügendheit kehrt sie sich um und wird zur negativen Offenbarung, zur Offenbarung, dass es eben keinen Gott gibt. Der gewichtige Schwachpunkt für eine Absolutsetzung dieser Überzeugung ist, dass sie im Grunde nur auf Ableitungen basiert, d.h. ausschließen kann man die Existenz eines absoluten Wesens logisch nicht, man kann sie nur bezweifeln.
Bewegen wir uns nun zum Punkt zwei, zum „sich in mir und überall um mich herum spontan und direkt offenbarenden Gott“. Oft wird dies unter dem Label „Erfahrungstheologie“ thematisiert und in bestimmten Kreisen rundheraus abgelehnt. Jedoch müssen wir hier umsichtiger vorgehen, denn jede Sekunde unseres Lebens ist „Erfahrung“ und also muss jedwede Erkenntnis Gottes aus ihr stammen. Die Unterscheidung ist eher in der Frage zu finden, ob es sich um die Erfahrung einer ständig möglichen unmittelbaren Offenbarung handelt oder ob diese nur auf bestimmte Weise und zu bestimmten Zeiten geschah. Wenn Gott sich direkt nur durch die Propheten, Christus und seine Apostel offenbart hat, sind alle Erfahrungen, die ich mache durch diese Offenbarung und ihrer Aufzeichnung (der Schrift) zu interpretieren und einzuordnen. Umgekehrt: Wenn sich Gott heute mir persönlich und anderen direkt (durch Gefühle, durch Gedanken, durch gesellschaftliche Entwicklungen, durch Ergebnisse menschlicher Forschung) offenbart, dann ist die Prävalenz der „alten“ Offenbarung rational nicht haltbar, und tendiert somit stark zur Erosion. Dann muss diese durch die „aktuelle“ Offenbarung gewogen, gesiebt und sortiert werden.
Dieser espistemologische Graben zieht sich heute durch fast alle Denominationen und nicht nur deshalb lohnt sich das genauere Hinsehen. Und auf der einen Seite finden sich auf den ersten Blick erstaunlich unterschiedliche Gruppen.
Den sich jetzt offenbarenden Gott glauben und predigen jene, die sehr allgemein als Pfingstler oder Charismatiker eingeordnet werden können, wie wir schon im zweiten Teil kurz erwähnten. Wikipedia setzt den Beginn der heutigen großen Prävalenz dieser Theologie auf die 50er und 60er Jahre. Es ist aber eindeutig, dass sie – ohne solch durchschlagenden Erfolge wie im 20. Jahrhundert – sich schon bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Und was scheinbare körperliche Auswirkungen des Heiligen Geistes anbetrifft, war zum Beispiel ein körperliches Zittern und Schütteln – auf Englisch „to quake“ – namensgebend für die Quäcker. Die Fokussierung auf körperliche und emotionale Erfahrung ist also erstmal nichts neues – bei genauerem Suchen würde man Anfänge noch viel eher finden. Im Grunde ist es ja eine Haltung, die in zahllosen Religionen diese Welt begegnet: ein Naturereignis, ein Traum, ein Gespräch, ein Gefühl, alles kann Gottesrede sein. Attraktiv ist daran das Konkrete, Unmittelbare – ich selbst bin betroffen, ich kann Gott spüren. Wo die Welt ist, weil ich bin und weil ich sie erfahre, um einen neuzeitlich-cartesischen Zugang zur Welt aufzugreifen, ist das ein recht nachvollziehbarer Weg der Gotteserkenntnis.
Die Form ein wenig abgeändert, aber im Zugang ähnlich, glauben so aber nicht nur Charismatiker, Pfingstler und Evangelikale, sondern auch Protestanten, die die Bibel und kirchenstiftende Bekenntnisse lediglich als Glaubenszeugnisse vergangener Zeiten anerkennen (mit der z.T. amüsanten Entwicklung, z.B. bei Schleiermacher, dass das Bekenntnis als ‚höherwertiger‘ als die Schrift angesehen wird, weil hier die religiöse Erfahrung ‚reiner‘ zu finden sei), und nicht als Glaubensnorm. Auch ihr Ankerpunkt ist die Erfahrung, das eigene Plausibelhalten- und Nachvollziehenkönnen des Vergangenen, und sind andere Offenbarungsorte (Forschung, kulturelle Begebenheiten und Praktiken, polisvhe Denkmodelle, verbreitete Meinungen etc.) dem biblischen vorgeordnet. Die kulturelle und zeitliche Bedingtheit dieser beiden Verstandeshaltungen wird hierbei jedoch wenig bedacht.
Und das kann soweit gehen, dass auf Fragen, die sich in meinem Leben stellen, eben nicht mehr die eher allgemeinen Aussagen der Schrift als selbstverständlich akzeptiert werden (z.B. Du sollst nicht ehebrechen) sondern eben, dass eine Verliebtheit in jemanden, mit dem man nicht verheiratet ist, als Wink und Gabe Gottes hin zu einem neuen Lebensabschnitt verstanden werden darf. De facto sticht der sich mir persönlich im Jetzt enthüllende Gott also den sich in der Schrift enthüllenden Gott aus, weil ich ja letzten Endes auf meine eigenen Gefühle und Eindrücke oder auf die anderer Individuen baue.
Den Übergang, weg von diesem auf lange Sicht trügerischen Christus des Jetzt erlebte ich persönlich als einen Perspektivwechsel. Weg von mir und meinen Erlebnissen, von dem Christus, der durch mich die Welt neu machen will, aber der auch einfach weg sein kann und mich in tiefste Zweifel stürzt, hin zu dem Christus, der mich gerettet hat bevor ich überhaupt geboren war, „der da war, der da ist und der da kommt“, der in diese Welt kam, der lebte, starb und auferstand, der „zur Rechten des Vaters sitzt“ und der wiederkommen wird. Hier merkt man schon, wir bewegen uns auf einmal im Gebiet der alten Glaubensbekenntnisse der Kirche. Ich war nun nicht mehr der Offenbarungsort Christi sondern Teil all derer die ihn bekannten und bekannt hatten. Es war nicht mehr meine Wahrheit, sondern eine uralte Wahrheit. Doch wer eine uralte Wahrheit bewahrt, kann sich nur sehr bedingt nach den flüchtigen kulturellen Bedingungen des Jetzt richten. Im Fachjargon wird diese Wahrheit von ihrem inhaltlichen Aspekt her übrigens als Magnus Consensus bezeichnet. Und sie ist auch eines der wichtigsten Argumente für einen hochliturgischen Gottesdienst, denn die Liturgie ist das Verbindungsstück über die Jahrtausende.
Um dagegen die andere Seite, die klassische (lies: orthodoxe, also orthos – recht, doxa – glaubende bzw. lehrende) Position zu beschreiben können wir sehr gut Chemnitz‘ Handbuch heranziehen:
Was ist die unmittelbare Berufung und wie geschieht sie?
Wenn Gott nicht durch Menschen, also durch ordentliche Mittel, sondern durch sich selbst ohne Mittel eine Person zum Predigtamt beruft und uns sendet. So wie er die Patriarchen, Propheten und Aposteln ohne Mittel berufen hat. Und die, die so berufen sind, die haben durch den Geist und Wunder Zeugnis, dass sie in der Lehre nicht irren und andere Prediger müssen die Lehre von ihnen empfangen und nehmen. Auch ist ihre Berufung nicht an eine gewisse Kirche gebunden, sondern sie haben Befehl, allenthalben zu predigen.
Muss man denn bald allen Phantasten glauben, wenn sie vorgeben, Gott sei ihnen erschienen, der Herr habe mit ihnen geredet, der Vater habe es ihnen befohlen, der Geist treibe sie?
Das verbietet Gott mit ausdrücklicher Warnung (Jer 14): „Sie weissagen falsch in meinem Namen. Ich habe sie nicht gesandt und ihnen nichts befohlen und nichts mit ihnen geredet. Sie predigen euch falsche Gesichte und ihres Herzens Betrug, etc.“ Sondern die, welche Gott ohne Mittel beruft, denen gibt er die Gabe, Wunderzeichen zu tun, oder andere göttliche Zeugnisse, dass sie damit ihre Berufung beweisen und bezeugen können, wie Mose in Exodus 4 tut. Daher nennt Paulus die Wunderzeichen Siegel des Apostelamtes (2. Kor. 12), wie auch Christus (Joh 5, Mt 10). Aber falscher Lehre soll man auch um kein Wunderzeichen willen Raum oder Glauben geben (Dtn 1, Mt 24, 2.Thess 2).
Ein Pfarrer der LCMS namens Fisk erläutert es einmal so:
„Willst Du ein von menschliches System, das versucht das unförmigen Etwas, das das Worte Gottes ist, in deine viereckige Schublade zu pressen oder willst Du etwas das sagt: „Schau her, wir haben ein unförmiges Etwas. Ich kann darüber reden, ich kann Dir genau beschrieben, wie es aussieht aber es passt einfach nicht in meinen Verstand.“
Unser eben genanntes Zitat von Pastor Fisk drückt dabei die Herangehensweise des Luthertums an die Schrift aus, die er als „ministerial“, als dienende Verwendung der Vernunft mit der Schrift im Gegensatz zum „magisterlial“ zum herrschaftlichen Gebrauch derselben setzt. Das Luthertum nimmt dabei – wenn es seinem Ideal nahekommt – die Schrift auf höchste Weise ernst, ohne ihre Natur zu verleugnen. Die Alternative sieht man in den verschiedensten Flügeln des Christentums am Werk: bei Fundamentalisten, bei denen eine kontextuelle Einordnung einzelner Stellen in den Gesamtzusammenhang kaum möglich scheint, bei Reformierten, die die Worte „dies ist mein Leib“ stets mit einem „das ist jedoch nicht so wörtlich gemeint“ zusammen lesen müssen und auch bei Liberalen, die es sich problemlos zutrauen, selbst entscheiden zu können, welche Teile der Schrift göttlich und welche menschlich sind.
Die oben schon erwähnte Parallele festzustelleneigt sich auch hier, denn – wie für eine charismatisch evangelikale Herangehensweise – gilt auch für die rationalistische bzw. liberale, dass der sich im Jetzt und in mir offenbarende Gott „die einige Regel und Richtschnur“ darstellt. Gemeinsam haben die Gruppen, die einen Widerspruch zwischen dem Wort Christi und dem Wort der Schrift konstruieren und dann wahlweise meinen, Jesu Stimme äußere sich in persönlichen Visionen oder in einer von ihnen erdachten „Geisteshaltung“ Jesu, dass beides – losgelöst vom Schriftwort – nur auf eigener Überzeugung beruht. Statt auf dem Fundament der Schrift balanciert man so auf dem Wackelstab des eigenen Selbst, der manipulierbaren eigenen Erinnerung, Überzeugung und Einbildung. Wird die Erinnerung trübe, ändern sich die Erfahrungen, was gut ist, bleibt das überwältigende Erlebnis aus, dann ist die Balance dahin.
Will sie also nicht nur schöne Erzählung sein, sondern Wahrheit beinhalten, kann sich Religion seriös nur auf etwas außer mir, nämlich auf direkte Offenbarung beziehen. Mit diesem Bezug geht aber notwendigerweise ein Allgemeingültigkeitsanspruch einher: Der, dass das Offenbarte der Wahrheit entspricht. Grundaspekt von Wahrheit bzw. Tatsächlichkeit ist es, dass es in jeder Beziehung nur eine gibt. Möglicherweise kann von unterschiedlichen Seiten auf die Wahrheit geblickt werden, aber sie ist keinesfalls beliebig. Es gibt eine Grenze, an der die Überzeugung des anders nicht geteilt werden kann, will man nicht unredlich sein. Das heißt nicht, dass der Andere dann verachtet werden soll oder Schlimmeres. Aber es bedeutet, dass ein Widerspruch entsteht, der nicht beseitigt werden kann.
Der Allgemeingültigkeitsanspruch des Judentums bezieht sich auf die Selbstoffenbarung Gottes durch seine Propheten, der des Christentums fügt hier als weiteren Akt der Selbstoffenbarung den Gottmenschen, Christus selbst und seine Apostel, hinzu. Es ist die Überzeugung, dass Christus und nur Christus der Sohn Gottes ist, der für uns geboren wurde, gestorben und auferstanden ist. Das kann kein Mensch ersetzen und bspw. an dieser Stelle gibt es keinen Ausgleich mit anderen Religionen. Dieses „Problem“ kann nur beseitigt werden, wenn man Christus unklar und schwammig zeichnet, wenn jeder sich seinen Christus malen darf. Das ist dann zwar nicht konsequent, weil ja immer noch ein Christus bleibt, und der andere ganz auf diesen verzichten wollte. Aber es reicht vermutlich aus, um sich das Gefühl geben zu können, nicht zu eng gedacht zu haben. Das könnte zumindest einen Teil der Attraktivität eines „persönlich erfahrenen“ Christus ausmachen, neben der Nähe und Persönlichkeit, die einen solchen vermeintlich ausmacht. Dass ein so designter Gott letztlich nicht nachhaltig, weil erdachter Götze ist, davor warnt uns die Schrift. Auf sie sollten wir hören.