„Fragen wir die Evangelien nach der Person Jesu!“ – So hatte der Abschnitt zum letzten Mal geendet. Aber zuvor ist zu fragen, was uns die Evangelien denn eigentlich sagen können. Denn es kann ja viel in ihnen stehen – wenn alles erfunden ist, dann ist die Menge irrelevant. Auch heute kommen wieder Renan, Strauß und Baur vor. Aber nun erteilen wir das Wort an Luthardt:
„Verstatten Sie mir zuerst ein Wort über die Evangelien überhaupt. Jesus selbst hat keine Schriften verfasst und hinterlassen. Denn er war kein Philosoph oder Religionsstifter im gewöhnlichen Sinne. Seine Person und sein Werk – das ist seine Schrift, die er mit mächtigen Zügen in die Geschichte der Menschheit hineingeschrieben hat, und die Wirkung seines Geistes an unseren Herzen, das ist die Schrift, die er tagtäglich noch mit unverlöschlichen Zügen in uns schreibt. Wohl aber haben seine Jünger Schriften verfasst, aus denen wir Näheres über ihn erfahren und durch welche auch die mündliche Überlieferung und Verkündigung von ihm, die seit dem Tage der Pfingsten durch die Welt geht, gestützt und geschützt wird. Zwar wir könnten Jesu gewiss sein, auch wenn wir keine Evangelien hätten; die Kirche selbst, ihre Existenz, wäre dann unser Evangelium. Und wir könnten der Haupttatsachen aus seinem Leben gewiss sein, auch wenn die mündliche Überlieferung im Einzelnen ungenau und schwankend wäre. Diese Unsicherheit im Einzelnen würde die Sicherheit im Großen und Ganzen nicht aufheben. Wir brauchten nichts über den I. Napoleon gelesen zu haben und könnten doch das Wesentlichste von ihm wissen, und es brauchte nichts über ihn geschrieben zu sein und die Hauptfakten seines Lebens stünden doch fest. Und wie sie jetzt feststehen, so könnten sie es noch nach Jahrhunderten. Und doch, was ist der Eindruck, den ein Napoleon auf die Gemüter der Menschen gemacht, gegen das Denkmal, das sich Jesus in den Herzen der Menschen errichtet! und was sind die Wirkungen die jener hinterlassen, gegen das Werk das dieser geschaffen! Also: unser Glaube hängt nicht von Schriften ab und von deren Sicherheit und Echtheit oder Unechtheit, sondern von Tatsachen die der Geschichte angehören, und von Wirkungen die wir im Herzen tragen. Aber die schriftlichen Berichte sind eine Stütze und ein Schutz unsres Glaubens. Sie zeichnen uns das Bild dessen, den wir kennen und lieben, in ihrer heiligen Einfalt mit Zügen so lebendig wahr, so hoch und rein, so lebenswarm und überwältigend, dass wir darin den Finger Gottes erkennen und bekennen und sie als das Liebste und Beste schätzen und ehren, was wir auf Erden besitzen.
Aber durch allerlei Angriffe auf diese Bücher hat sich vielfach, und vorzugsweise unter den Unkundigen, die Meinung verbreitet, als stünde es mit diesen Schriften nicht so sicher als man bisher in der christlichen Kirche geglaubt. Aber das ist ein unbegründeter Argwohn. Und wenn man vollends aus der vermeintlichen Unsicherheit der Schriften auf die Unsicherheit der Tatsachen selbst glaubt schließen zu dürfen, so ist das höchste Willkür.
Wie steht es mit den evangelischen Berichten? Wir dürfen nicht vergessen, es sind nicht etwa Schriften, die man einmal in einer Bibliothek gefunden und über deren Ursprung man zweifelhaft sein könnte, weil man nichts Näheres über sie weiß. Nicht heimlich sind sie entstanden und aus der Heimlichkeit in die Öffentlichkeit getreten, sondern sie waren von vornherein öffentliche Schriften. Das erste Evangelium – so wird uns berichtet, hat der Apostel Matthäus für die jüdischen Christen Palästinas geschrieben, ehe er dieses Land verließ, um auch in andern Ländern das Evangelium zu verkündigen. Das zweite Evangelium ist nach der kirchlichen Überlieferung unter den Augen des Petrus entstanden. Das dritte sagt von sich selbst, es sei eine Frucht fleißiger Nachforschungen im heiligen Land und ist einem vornehmen Römer zu dessen weiterer Unterweisung gewidmet, um dann durch diesen zum Eigentum der christlichen Gemeinde gemacht zu werden. Das vierte aber bekennt sich als Bericht eines Augenzeugen und deutlich genug als eine Schrift des Apostels Johannes, und es wird uns erzählt, Johannes habe, nachdem er in Ephesus lange nur mündlich von Jesu verkündigt, auf dringende Aufforderung der Vorsteher der Gemeinde diese evangelische Schrift verfasst. So sind denn diese Schriften nicht bloße Privatschriften, sondern sie tragen von vornherein öffentlichen Charakter an sich. Unter den Augen der Kirche sind sie entstanden und haben sie sich verbreitet.
Durch die Sitte der öffentlichen Vorlesung in den Gemeindeversammlungen wurden sie sanktioniert. Es hat noch manche andere evangelische Berichte gegeben – wie wir auch aus den einleitenden Worten des Lukasevangeliums sehen – aber sie hatten nicht dieselbe Vollständigkeit und Sicherheit ihres Inhalts und Autorität ihres Ursprunge. So sind sie denn durch diese Hauptschriften allmählich verdrängt worden aus dem Gebrauch und verschwunden, während diese immer mehr zu Geltung und Ansehen gelangten. Wir haben nur wenige Reste aus der christlichen Literatur des ersten Jahrhunderts. Erst von 150 n. Chr. an wird sie reichhaltiger. Aber so gering und lückenhaft diese Literatur ist, finden wir doch in ihr mannigfache Beziehungen auf die evangelischen Schriften, und je reichhaltiger jene Literatur wird, um so reicher werden auch diese Beziehungen und um so mehr sehen wir ihr kirchliches Ansehen und ihren kirchlichen Gebrauch gesichert.
Und dieses Zeugnis der alten Kirche ist um so höher anzuschlagen, je mehr wir aus vielen einzelnen Beispielen wissen, wie genau und zäh man in der Überlieferung war, auch da wo sichs um Festhaltung untergeordneter Traditionen handelte, so dass diese Genauigkeit und Zähigkeit der alten Kirche uns nur ein günstiges Vorurteil auch für ihre Bezeugung der evangelischen Schriften erwecken kann. Und gerade demjenigen Evangelium, um welches es sich vor Allem handelt in der Evangelienfrage, dem Johannesevangelium, kommt die enggeschlossene Kette der Überlieferung des johanneischen Kreises zu Hilfe. Denn des Apostel Johannes Schüler war Polykarp, der etwa 90 Jahre alt als Bischof von Smyrna den Märtyrertod starb. Und dessen Schüler wiederum war Irenäus, in dessen Schriften wir genaue Zeugnisse über das Johannesevangelium haben. Und Irenäus konnte darüber Genaues wissen, denn sein Lehrer Polykarp hatte ihm viel aus seinem persönlichen Verkehr mit dem greisen Apostel Johannes erzählt. Also musste Irenäus wissen, ob das vierte Evangelium von Johannes stammt und konnte es ihm unmöglich zuschreiben, wenn es der Zeit wie dem Geiste nach diesem Apostel so ferne lag, wie die negative Kritik behauptet.
Aber es ist nicht bloß die äußere Bezeugung der Kirche, die für die Evangelien spricht: es ist ihr Selbstzeugnis, das Zeugniß welches ihre ganze Haltung und ihr gesamter Charakter für sie ablegt. Erwägen wir vor allem dieses: Neben den Schriften ging die mündliche Unterweisung her. Der erste christliche Unterricht war ein Unterricht in der evangelischen Geschichte. So war die Kenntnis derselben ein Gemeingut der ganzen Gemeinde – nicht erst durch die Evangelien, sondern durch den mündlichen Unterricht, wie sie ihn Alle und sehr eingehend empfingen von den Aposteln her. Würde man die evangelischen Berichte angenommen haben, wenn sie nicht mit diesem mündlichen Unterricht übereingestimmt hätten? Denn dieser Unterricht stammte von den Augenzeugen. Nur wenn die evangelischen Berichte auch auf solche Augenzeugenschaft zurückgingen, konnten sie Eingang finden, mochten nun ihre Verfasser selbst Augenzeugen gewesen sein wie Matthäus und Johannes und vielleicht Markus, oder ihre Erzählungen unmittelbar aus dem Munde von Augenzeugen vernommen haben wie Lukas. Diesen Charakter aber tragen die Evangelien auch an sich. Man merkt ihnen durchweg die Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit an. Der Hauch der Frische, der Zauber der Ursprünglichkeit ist über sie alle ausgebreitet. Darin liegt ihr Reiz, ihre fesselnde Gewalt. Wir sehen, wir hören Jesum felbst, wir leben die Geschichte mit. Es sind keine Reflexionen über die Geschichte, es sind die Tatsachen selbst leibhaftig; es sind keine schulmäßigen Darstellungen der Geschichte, es ist die Geschichte selbst, sie redet zu uns, wir werden mitten in diese große Geschichte mit hineinversetzt. Und diese Unmittelbarkeit der Darstellung besteht auch vor der Untersuchung. Es sind eine Menge einzelner geographischer und anderer Notizen eingestreut. Wir können sie kontrollieren. Und die Kontrolle wird zur Bestätigung.
Was aber die Hauptsache ist, das ist das Bild Jesu, das sie uns zeichnen. Das konnte kein Mensch erfinden, das kann nur Kopie eines wirklichen Originals sein. Man kann von einem Menschen sagen, er sei ohne Sünde und Irrtum, das Bild der göttlichen Heiligkeit selber. Aber man könnte dieses Bild nicht zeichnen, ohne dass unser beschränkter, irrender und sündiger Geist Züge mit hineinbrächte, welche ihren Ursprung verrieten. Hier jedoch haben wir ein vollständig durchgeführtes Lebensbild in allen möglichen Situationen, in allem Wechsel des inneren und äußeren Lebens, in den stärksten Kontrasten. Und in jedem Zuge, in jeder leisen Wendung nötigt uns diese Gestalt Bewunderung ab und zieht uns vor sich nieder auf die Knie. So erfindet man nicht. Und so konnten am allerwenigsten Juden erfinden. Denn das war nicht das Ideal, das sie etwa im Geiste trugen. Sie haben nicht ihrem Ideale Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit hat ihnen erst dieses Ideal gegeben. Denn das Ideal das sie hatten, das mochte etwa einem jüdischen Schriftgelehrten entsprechen – aber wie wenig trug Jesus davon an sich! Er war ganz das Gegenteil eines solchen. Bei der Unselbständigkeit und Abhängigkeit von der Autorität der Lehrer in religiösen Dingen, wie sie die Jünger mit dem übrigen ungelehrten Volke teilten, würden sie sich nimmermehr von dem Vorbild jener Autoritäten emanzipiert und ein so ganz anderes Bild aufgestellt haben, wenn ihnen nicht in Jesus die Wirklichkeit dieses Bildes, das sie zeichnen, mit überwältigender Macht und Hoheit vor die Seele getreten wäre. […] Allerdings wir könnten etwa ähnlich erfinden; aber nur weil wir eben dieses Vorbild haben. Und auch dann noch wie würde unsere Erfindung ausfallen! Renan hat es gezeigt, der ein selbsterfundenes Ideal aufzustellen sucht, das die wesentliche Wahrheit des Evangeliums wiedergeben will. Wie ist es geraten? Jesus wird bei aller Hoheit und liebenswürdigkeit zuletzt ein Schwärmer und Fanatiker, der selbst unsittliche Mittel zur Erreichung seines Zwecks nicht scheut. So geraten unsre Zeichnungen trotz dieses Vorbildes. Und nun vollends jene jüdischen Zöllner und Fischer, die so ganz andere Vorbilder hatten, wie sollten sie dieses wunderbare Gemälde entwerfen können! Dieser ihr Inhalt ist es durch den sich die Evangelien bezeugen und stets den Glauben an ihre Wahrheit wirken werden. Auch ein Goethe hat sich diesem Eindruck nicht zu entziehen vermocht. „Ich halte die Evangelien – sagt er einmal in den Gesprächen mit Eckermann III, 371 – für durchaus echt; denn es ist in ihnen der Abglanz einer Hoheit wirksam, die von der Person Christi ausging und die so göttlicher Art, wie nur je auf Erden das Göttliche erschienen ist.“
Es würde für uns genug sein, wenn durch diese Zeugnisse, das äußere und das innere, nur der wesentlichste allgemeine Inhalt der evangelischen Berichte bestätigt würde. Denn ist uns nur die Person Jesu gewiss, so ist uns die Hauptsache gewiss. Aber diese Gewissheit erstreckt sich auch auf das Einzelne. Handelt es sich doch um Vorgänge, welche das Gemeingut der christlichen Gemeinde und auch den Gegnern nicht unbekannt waren. Denn – wie sich Paulus dem römischen Statthalter Festus gegenüber darauf berufen konnte „sie waren nicht im Winkel geschehen“ (Apg 26, 26) sondern vor Aller Augen, und bildeten den Gegenstand vieler Verhandlungen mit seinen Gegnern, am Schluß den Grund des Prozesses, den man ihm machte, und seiner Hinrichtung. Renan meint zwar: die Evangelisten haben erzählt, wie etwa ein paar alte Grenadiere von Napoleons Garde dessen Taten erzählt haben würden; diese würden anschauliche Einzelbilder, interessante Anekdoten, einen lebendigen Eindruck von der Sache geben, aber die Dinge selbst würden sie untereinander werfen; sie würden etwa Robespierre von Napoleon aus den Tuillerien vertreiben lassen, oder Sachen von der höchsten Wichtigkeit weglassen. Aber standen die Jünger dem Herrn so ferne, wie etwa ein paar Grenadiere dem Napoleon? Von Gliedern des Generalstabs müsste er etwa sprechen: dann würde der Vergleich anwendbar sein. Und treten nicht die apostolischen Briefe – auch wenn wir uns nur auf die beschränken welche noch kein Verständiger je bezweifelt hat – den evangelischen Berichten bestätigend zur Seite? Wenigstens die wesentlichsten Tatsachen der Geschichte Jesu, seines wunderbaren Ursprungs, seiner Wirksamkeit, seines Versöhnungstodes am Kreuze, seiner Auferstehung, seiner himmlischen Herrlichkeit – finden wir auch in diesen. Es ist nur ein Einwand, welcher allen den verschiedenen Argumenten, die man gegen die Geschichtlichkeit der evangelischen Berichte aufgestellt hat, zu Grunde liegt, das ist die Leugnung des Wunders, die Leugnung einer höheren Welt. Das ist aber ein Einwand nicht der historischen Kritik, sondern der philosophischen Weltanschauung. Wer das Dasein der höheren Welt glaubt, wer in der Person und Geschichte Jesu Christi die Offenbarung derselben sieht, für den fällt der Grund dieses Anstoßes weg, der ist des Wunders in der Geschichte Jesu Christi gewiss, ja der muss das Wunder in derselben sogar fordern. Nur eine Bedingung müssen wir stellen, nämlich dass das Wunder einen sittlichen Zweck habe, daß es nicht willkürlich und phantastisch sei, sondern der Offenbarung der Gnade und Wahrheit diene, die in Jesus Christus erschienen ist. Und wer kennt die evangelische Geschichte und weiß das nicht und muss es nicht anerkennen? Und wollen wir hierüber noch völligere Gewissheit erlangen, so brauchen wir nur die apokryphischen Evangelien und ihre willkürlichen, sittlich zwecklosen und abgeschmackten Wundergeschichten oder den Sagenkreis der sich um Muhammed gebildet hat mit unsern Evangelien zu vergleichen, um uns zu überzeugen, welch ein himmelweiter Unterschied hier stattfindet und wie jene Karrikaturen der evangelischen Geschichte zur eklatantesten Bestätigung unsrer Evangelien dienen.
Zu welchen Mitteln hat man seine Zuflucht genommen, um sich der evangelischen Geschichte zu entledigen, nachdem man von vornherein entschlossen war sie nicht anzunehmen! Strauß begann 1835 in seinem Leben Jesu die Angriffe, die seitdem in immer neuer Gestalt wiederholt wurden. Sein Gedanke war dieser: die ersten Christen haben das Bild ihres Meisters mit himmlischen Zügen, welche sie den Weissagungen des Alten Testaments entnahmen, ausgeschmückt und so das Gewebe einer mythischen und sagenhaften Geschichte gebildet. Aber wahrlich, wenn die Jünger nach ihren Erwartungen ein Bild des Messias hätten entwerfen sollen, sie hätten es ganz anders entworfen. Den königlichen Sohn Davids hätten sie gedichtet und nicht den Propheten Galiläas, den Gekreuzigten und Auferstandenen. Die äußere Wirklichkeit der Geschichte Jesu war ihnen mehr ein Hindernis als eine Hülfe ihres Glaubens, denn sie war nicht nach ihren Wünschen und Hoffnungen. Nur der übermächtige Eindruck der Person Jesu hob sie über alle diese Anstöße ihres Glaubens hinüber und machte ihnen gewiss, dass Er der Messias sei. Nur eine so ungewöhnliche Erscheinung, als welche er uns in den Evangelien geschildert wird, konnte diese Wirkung in ihnen hervorrufen. Und wie sollte ein solcher Mythenkreis sich bilden können in dem kurzen Zeitraum, der zwischen der Geschichte selbst und ihrer Aufzeichnung verfloss? und obendrein in jener Zeit des historischen Bewusstseins und reicher literarischer Tätigkeit? Das widerspricht aller geschichtlichen Möglichkeit. Einzelne Legenden und Sagen können durch den ungewöhnlichen Eindruck, den eine erschütternde Tatsache oder eine großartige Erscheinung in den Gemütern der Menschen hervorruft, erzeugt werden und zum geschichtlichen Bericht ausschmückend hinzutreten, aber nicht ein solches wunderbares Leben.
Aber Strauß bekannte selbst, dass sein Angriff ein verfehlter war, sein Meister, Baur in Tübingen, habe ausgeführt was er versucht. „Ich hatte die Festung im jugendlichen Ungestüm durch einen Handstreich erobern wollen; aber mein größerer Meister hat erst die regelrechte Belagerung unternommen, vor welcher ihre Mauern fallen mussten.“ Und allerdings, Baur hätte die Festung erobern müssen, wenn sie zu erobern gewesen wäre. Er schlug mit der unverdrossenen Geduld, wie sie nur deutschen Gelehrten möglich ist, einen langwierigen Weg ein, um nachzuweisen, dass wir an den verschiedenen evangelischen Schriften Denkmale späterer Zeiten und verschiedener gegensätzlicher Richtungen in der Kirche haben, auf welche deshalb nur ein sehr unsicherer Verlass sei. Vor Allem musste dieses vom Johannesevangelium nachgewiesen werden. Natürlich: denn ist dieses eine echte Urkunde der Geschichte Jesu, dann ist die höhere Ansicht von der Person Jesu gesichert. Deshalb wurde alle Kraft angestrengt, diese Schrift in die Zeit nach 150 n. Chr. herabzurüken. Aber so mühselig diese Versuche waren, so vergeblich waren sie. Baurs Schule hat sich je länger je mehr aufgelöst, und er selbst hat am Schluss bekannt, daß immer noch die Person Jesu Christi ein großes Geheimnis der Geschichte bleibe und dass an seiner Person „jedenfalls die ganze weltgeschichtliche Bedeutung des Christenthums hängt.“ Und das Rätsel seiner Auferstehung musste er ungelöst stehen lassen. Aber wenn die Auferstehung ein Rätsel bleibt, dann ist auch die Person Jesu ein Rätsel. Und ist diese unverstanden, was soll dann alles andere Verständnis der Geschichte der Menschen?
Wir haben eine Reihe von Schriften aus dem 2. Jahrhundert. Wenn wir diese mit den neutestamentlichen Schriften, auch mit den Evangelien vergleichen, so müsste man kein Urteil mehr für literarische Erzeugnisse haben, wenn man nicht die enorme Kluft erkennen wollte, die Beide voneinander scheidet. Das Johannesevangelium dem zweiten Jahrhundert zuweisen, das wäre ähnlich wie wenn man die geistmächtigsten Schriften Luthers zur Zeit des dreißigjährigen Krieges von einem Unbekannten geschrieben sein lassen wollte. Wer das behaupten wollte, den würden alle Kundigen und Verständigen verlachen. Auch Schelling hat jenen Unterschied als den stärksten Beweis für die Ursprünglichkeit der neutestamentlichen Schriften bezeichnet, und auch Kritiker aus Baurs Schule haben jene Kluft zwischen den neutestamentlichen und den späteren Schriften – so groß wie nur immer zwischen den Literaturprodukten einer klassischen und einer nachklassischen Periode – anerkannt.
Man hat zwar viel von den Widersprüchen gesprochen, die zwischen den evangelischen Berichten stattfinden sollen, um dadurch ihr Zeugnis als zweifelhaft und ungültig erscheinen zu lassen. Aber diese angeblichen Widersprüche berühren nicht den Kern, sondern nur Einzelnheiten und Äußerlichkeiten der Geschichte. Nirgends in aller Welt gelten solche Differenzen als ein Argument gegen die Sache selbst. Und wie hat man die Evangelien gequält, um diese Widersprüche herauszubringen! Lessing verstand sich doch wohl auf Kritik. Er kann aber nicht umhin auszusprechen: „Wenn Livius und Dionysius und Polybius und Tacitus (römische Geschichtschreiber) so frank und edel von uns behandelt werden, dass wir sie nicht um jede Silbe auf die Folter spannen, warum dann nicht auch Matthäus und Markus und Lukas und Johannes ?“ Jene Widersprüche, die man gefunden zu haben glaubt, verdanken in der Regel ihren Ursprung einer ganz äußerlichen Betrachtung und Vergleichung der Berichte, welche unterlässt, nach dem Grundgedanken zu fragen, nach welchem ein jeder Evangelist seinen geschichtlichen Stoff ausgewählt und dargestellt hat. Auch kommt man neuerdings von jener Voreingenommenheit gegen die evangelischen Berichte mehr zurück; und auch Renan hat nicht umhin gekonnt, den geschichtlichen Kern derselben, selbst des Johannesevangeliums, anzuerkennen. Freilich behandelt er sie mit einer Willkür die nicht ihres Gleichen hat, um eine Geschichte herauszubringen, welche im Grunde nur das Erzeugnis seiner Phantasie ist.
Kehren wir denn nunmehr zurück zu unsrer Frage nach der Person Jesu Christi!“
aus: Christoph Ernst Luthardt, Apologetische Vorträge über die Grundwahrheiten des Christentums, Zehnter Vortrag. Die Person Jesu Christi, Leipzig 1864, 188-198.