Nach unserem letzten Interview mit dem alten Dorpater hat uns Theodosius noch einen kleinen ergänzenden Brief geschickt, in dem er über den aktuellen Zustand der Kirche schreibt:
„Man wirft sich gern auf sekundäre Fragen, weil sie Raum zur Geltendmachung des Eigenen und Besonderen geben, und man ist nur zu bald bei der Hand, solche Fragen zum Zentrum der kirchlichen Gemeinschaft, und in ihnen das Eigene zum Maßstab des Ganzen zu erheben. Da kann es nicht anders sein: das Auge verliert die Einfalt, die nur auf das Eine sieht, der Gesichtskreis verengt sich, die Liebe erkaltet, und man ist jederzeit bereit, da trennend vorzuschreiten, wo man an den Lasten, Nöten und Leiden des Ganzen mittragen sollte. Es gehört ja zu den ernstesten Zeichen unserer Zeit überhaupt, dass ein unsicheres, banges Warten der Dinge, die da kommen sollen, sie durchzieht, und dass ihre Kinder dennoch, statt zu sammeln, zerstreuen, indem sie das Ihre suchen und obendrein eifrigste bemüht sind, den Ast als vermeintliches Hindernis ihrer vollen Freiheit zu durchsägen, welcher allein sie noch trägt. Damit hängt es zusammen, sehe ich anders recht, dass man auch lutherischerseits heutzutage so leicht dazu geneigt ist, solchen praktischen Fragen, wie die über die Zucht, die Verfassung, das Regiment der Kirche, alsbald kirchentrennende Bedeutung zu geben. Ich unterschätze nicht den Ernst und die Gewissenhaftigkeit des Glaubens, die sich dabei kundgeben, ich baue vielmehr darauf die Möglichkeit einer Verständigung. Noch viel weniger halte ich jene Frage für irrelevant. Aber was ich dabei nicht finden kann, das ist die zentrale Ruhe, Sicherheit und Festigkeit des Glaubens, die aus dem großen ›satis est‹ unserer Augustana1 so felsenfest und so friedfertig hervor leuchtet, und die auf dem Grunde der Einheit des Glaubens und Bekenntnisses Einsicht gibt zum Unterscheiden, Freiheit zum brüderlichen Verhandeln, Kraft zum Tragen, Geduld zum Warten. Ist es doch kein Zeichen eines innerlich seiner selbst getrost und gewiss gewordenen Glaubens, wenn dem Einzelchristen im gewöhnlichen Leben jede Frage, jeder Konflikt zu einer Existenzfrage für seinen Glauben wird. Und was von dem Einzelnen, das gilt auch von der Kirche. ›Es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde.‹ Nach diesem köstlichen Gut haben wir alle zu ringen in einer Zeit großer Glaubensschwäche und schwerer Anfechtungen, welche unsere Kirche in ihrem Innern von dem ihrem Wesen gleichermaßen widerstrebenden Geiste falscher Freiheit und unevangelischer Gesetzlichkeit zu erfahren hat. Es ist eben der starke, erkältende Zugwind der Zeit, der mitten durch ihr Haus weht.“
aus: Theodosius Harnack, Die Kirche, Ihr Amt, Ihr Regiment, 11.
1: „Denn dieses ist genug (lat. satis est) zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, dass da einträchtiglich nach reinem [Verständnis] das Evangelium gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden.“ CA VII
Also: Nicht jeder Dissenz in z.B. moralischen Frage ist gleich ein Grund, die Kirche zu verlassen und eine eigene zu Gründen. Genauso wenig aber ist eine Übereinstimmung in solchen Fragen Grund, zusammenzubleiben. Am Ende entscheidend, auch für das Verhalten der Lutheraner in Deutschland ist es, in der Kirche zu sein, in der das Evangelium gepredigt und die Sakramente richtig gespendet werden.