Ethangelikal die Zweite: Ethik ist Gesetz, wo bitte ist Evangelium?

Bereits vor einigen Wochen beschäftigten wir uns mit dem Grundproblem der „konservativen Frommen“ in der Kirche: Der Moral. Wir stellten fest: Die „fromm“-konservativen christlichen Gruppen befinden sich im Zentrum des Trends, der Moralfragen über Lehrfragen stellt. Sie geben Antwort auf die Frage: „Wie soll ich leben?“, nicht aber auf die Frage nach dem, was Gott in seinem Wort lehrt. Es geht also um das Handeln. Das moralisch korrekte Leben wird zur Leitfrage der kirchlichen Unterweisung. Das ist aber formal nichts anderes als der moralisch korrekte Diskurs der „Liberalen“ oder „Linken“. So sehr antagonistisch „Evangelikale“, „Fromme“, „Konservative“ gegenüber den „Liberalen“, „Modernen“, „Linken“ erscheinen, so sind sie doch nur die zweite Seite der einen Medaille. In beiden Diskursen – die Welt retten durch saubere Energie oder durch korrekte Sexualethik – geht es um das Gesetz, die Erfüllung eines Gesetzes. Beide Themenkreise lassen sich übrigens auch biblisch diskutieren (ohne, dass es uns hier um Parteinahme gehen wird). Es finden sich also sowohl biblische als auch gesellschaftliche Argumente für beides.

Nun hört sich das ja erst einmal gut an: die Frommen argumentieren mit biblischem Gesetz. Aber genau da ist der Haken. Sie bleiben eben im Gesetz, sie lassen sich in den Diskussionen stets darauf beschränken und darauf zurückdrängen. Vielleicht ist auch bequem. Denn auf diese Position festgenagelt zu werden und sich selbst festzunageln, bedeutet ja gerade, keinen Zweifel daran zu lassen, dass man fromm ist: Seht her, alle sagen, ich wäre biblizistisch. Das heißt ja, ich werde aufgrund meiner biblisch fundierten Haltung ausgegrenzt.

Aber, Bibel bzw. christlichen Glauben mit Moral deckungsgleich zu setzen, bedeutet, die notwendige Differenzierung zwischen Gesetz und Evangelium fallen zu lassen. Die Moralisierung der Kirche hat beides in einander gesetzt und aus der Kirche eine Gesetzesanstalt gemacht: Du musst. Dabei ist es dann egal, ob „die Welt gerettet“ werden muss oder man sich „bürgerlich-konservativ“ verhalten sollund das auch von anderen einfordert. Es ist gesetzlich, egal ob ich es fromm begründe oder lebensweltlich. Das Gesetz verdammt uns. Eine gesetzliche Kirche ist keine Kirche Christi mehr. Sie ist eine bemühte Kirche – eine verzweifelnd versagende Kirche, „denn das Gewissen kann nicht zu Ruhe und Friede kommen durch Werke“ (CA XX).

Das Versagen steht immer wieder am Ende des Gesetzesweges. Natürlich kann es „gute Phasen“ geben. Natürlich kann ein Held aus der Gemeinde so sehr inspirieren, dass die ganze Gemeinde unglaubliche Kraft bekommt, heldenhaft gesetzestreu zu sein (oder zumindest jeder meint, solches den Anderen vorspielen zu müssen). Vielleicht ist es sogar so, dass wirklich ganz moralisch korrekt gelebt wird. Und dann klopft die Kirche sich auf die Schulter, weil sie es geschafft hast, oder? Nein, denn auch das wäre ja schon wieder selbstsüchtig und somit gegen das Gesetz. Das Gesetz leben geht nur in reinster Gottesliebe. Das ist unmöglich? Ja, genau, das ist unmöglich.

Christlicher Glaube gründet sich auf das Wort Gottes am Kreuz. Noch sehen wir durch einen dunklen Spiegel. In unserem Erleben, unserem Alltag wird gerade gar nichts klar. Auch können wir keine moralische Überlegenheit anbieten, denn das, was wir nicht wollen, tun wir doch. Unser Heil erfahren wir außerhalb unser selbst – in Christus. Wir selbst bleiben im Kampf mit der Sünde und müssen uns dabei von Gott tragen lassen, denn mit unserer Macht ist nichts getan. Die seit Jahren kreisenden Debatten um Moralfragen suggerieren aber etwas ganz anderes: Sie suggerieren, dass die frommen Kreise jene Probleme erstens im Griff haben und zweitens jene Probleme der Prüfstein sind, anhand derer sich christliches Leben entscheidet. Der Eckstein aber ist Christus, nicht irgendein menschliches Verhalten.

Warum ist das so? Bibel und Bekenntnis machen mich zunächst erst einmal demütig. Ich erkenne mich als Sünder, egal wer ich bin. Sie teilen nicht gegen die Anderen aus, sondern gegen mich. Und sie wenden den Blick von mir auf Christus. Nicht, was Jesus tun würde, sondern was er getan hat, ist entscheidend: Seine Tat am Kreuz für uns. Erst in dieser Perspektive, erst wenn Gott mich und die ganze Kirche trägt, bin ich gerechtfertigt, ist die Kirche gerechtfertigt. Erst dann mag es sein, dass ich die anderen wirklich ehrlich liebe und das alles nicht nur eine Floskel ist, die ich als Christ eben immer noch mit dazu sagen muss.

Aber ist nicht das Moralische zumindest das fassbare Merkmal echter Christlichkeit? Lässt nicht der, der das Unmoralische zulässt, die Sünde herrschen? Und überhaupt, behaupten wir nun, Sünde sei egal?

Die CA sagt über die Erbsünde (CA 2):

Weiter wird bei uns gelehrt, daß nach Adams Fall alle Menschen, so natürlich geboren werden, in Sünden empfangen und geboren werden, das ist, daß sie alle von Mutterleibe an voller böser Lust und Neigung sind und keine wahre Gottesfurcht, keinen wahren Glauben an Gott von Natur haben können; daß auch dieselbige angeborne Seuche und Erbsünde wahrhaftiglich Sünde sei und verdamme alle die untern ewigen Gottes Zorn, so nicht durch die Taufe und Heiligen Geist wiederum neu geboren werden.

Hierneben werden verworfen die Pelagianer und andere, so die Erbsünde nicht für Sünde haben, damit die Natur fromm machen durch natürliche Kräfte, zu Schmach dem Leiden und Verdienst Christi.

Die natürlichen Kräfte können also nicht fromm machen. Im Gegenteil, wir werden „aus Gnaden um Christus willen durch den Glauben [gerechtfertigt], so wir glauben, daß Christus für uns gelitten hat, und daß uns um seinetwillen die Sünden vergeben, Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt wird. Denn diesen Glauben will Gott für Gerechtigkeit vor ihm halten und zurechnen […] (CA 4). Zwar soll „solcher Glaube gute Früchte und gute Werke bringen„, aber doch nicht, um auf diese zu vertrauen. Hier werden wir wieder auf Christus allein zurückgewiesen. Die Reihenfolge also ist klar: „Der Glaube ergreift allezeit allein Gnade und Vergebung der Sünden. Und dieweil durch den Glauben der Heilige Geist gegeben wird, so wird auch das Herz geschickt, gute Werke zu tun.“

Das moralische Handeln ist ein Geschenk des Heiligen Geistes. Es ist nicht in erster Linie tauglich als Kriterium des Glaubens oder der Christlichkeit.

Was christlichen Glauben dagegen ausmacht, kann zum Beispiel so ausgedrückt werden (Kleiner Katechismus):

Ich glaube, daß Jesus Christus, wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren, und auch wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren, sei mein Herr, der mich verlornen und verdammten Menschen erlöst hat, erworben und gewonnen von allen Sünden, vom Tod und von der Gewalt des Teufels, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben; damit ich sein eigen sei und in seinem Reich unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit, gleichwie er ist auferstanden vom Tode, lebet und regieret in Ewigkeit.

Und ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten; gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten, einigen Glauben; in welcher Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergibt und am Jüngsten Tage mich und alle Toten auferwecken wird und mir samt allen Gläubigen in Christus ein ewiges Leben geben wird. Das ist gewißlich wahr.

Wir wiederholen uns: Kriterium ist nicht, was wir tun, sondern, was Christus für uns getan hat.

 

4 thoughts on “Ethangelikal die Zweite: Ethik ist Gesetz, wo bitte ist Evangelium?

  1. Willi Herbert

    Guten Abend lieber A.Schneider,

    dankeschön für Ihre Klarstellungen in obigem Artikel!

    Nur mit einer Ihrer Aussagen bin ich nicht einverstanden: „Ich erkenne mich als Sünder, egal wer ich bin.“

    Dagegen heißt es von Gläubigen in Rö 8,12-14: „Darum sind wir jetzt nicht mehr unserer eigenen Natur verpflichtet, liebe Geschwister, als müssten wir uns von ihr bestimmen lassen! Denn wenn ihr euer Leben von eurer Natur bestimmen lasst, werdet ihr sterben. Wenn ihr aber durch den Geist die alten Verhaltensweisen tötet, werdet ihr leben. DENN DIEJENIGEN, DIE VON GOTTES GEIST GELENKT WERDEN, SIND KINDER GOTTES“.

    Zum einen wird hier deutlich, dass nun der Gottesgeist unser Leben regiert und wir bereit sind, nicht mehr (wie früher) eigenmächtig drauf los zu leben.
    Zum anderen wird bezeugt, dass wir nun Gottes Kinder – also keine Sünder – sind!

    Leider kennen viele Christen Jesus und sein Erlösungswerk nur als Möglichkeit eines „Sünden-Abladeplatzes“. Bei ihnen geht’s nach der Melodie: Wir sind und bleiben Sünder, und es bleibt uns nur, die Sünde ernst zu nehmen, sie zu bekennen und die Vergebung dafür in Empfang zu nehmen.“

    Doch das ist eine völlig unzureichende Betrachtung des Erlösungswerkes Jesu! Er hat doch lt. Rö 6,6-7 den Zwangszustand der Sünde aufgehoben: „Was wir verstehen müssen, ist dies: Der Mensch, der wir waren, als wir noch ohne Christus lebten, ist mit ihm gekreuzigt worden, damit unser sündiges Wesen unwirksam gemacht wird und wir nicht länger der Sünde dienen. Denn wer gestorben ist, der ist vom Herrschaftsanspruch der Sünde befreit.“ (Siehe auch die Verse 8-14).

    Vor unserer Wiedergeburt mussten wir der Sünde dienen, waren ihrem Zwang und ihren Zwängen ausgeliefert – und hatten auch gar keine andere Möglichkeit.

    Nun, als Kinder Gottes, müssen wir nicht mehr sündigen. Der Anspruch der Sünde ist erloschen und die Sklaverei ist aufgehoben: „Aber Dank sei Gott, dass die Zeit vorbei ist, in der ihr Sklaven der Sünde wart …“, Rö 6,17a. Wir haben jetzt eine echte Alternative: Wir können nein sagen, entsprechend Rö 6,11: „…Geht von der Tatsache aus, dass ihr für die Sünde tot seid, aber in Jesus Christus für Gott lebt.“ Vgl. auch 1.Joh 3,13a: „Wir sind ja aus dem geistlichen Tod ins Leben übergewechselt …“!

    Nach diesem Schritt vom Tod ins Leben sind wir lt. Bibel keine Sünder – auch keine begnadigten Sünder – mehr, sondern Kinder Gottes! „Gott hingegen beweist uns seine Liebe dadurch, dass Christus für uns starb, als wir noch Sünder WAREN“,Rö 5,8.

    Beides – Sünder & Gotteskinder – zugleich, können wir nicht sein! Als Christen dürfen wir in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes leben – und den Freimut haben, uns als „Heilige“ (Rö1,7; 1.Kor 1,2; Phil 4,21-22) und „Geliebte“ (Rö 1,7; Off 1,5) zu bekennen und zu benennen.

    Liebe Grüße schickt
    und ein inspirierendes Wochenende wünscht Ihnen
    Willi Herbert

    • studiosus theologicus

      Nun, ich meine, dass Sie, wenn Sie diese Aussage ablehnen, konsequenterweise den gesamten Beitrag ablehnen müssten. Denn diese Aussage ist ja nicht isoliert. Zum Vergleich nur die eine Stelle: „Vielleicht ist es sogar so, dass wirklich ganz moralisch korrekt gelebt wird. Und dann klopft die Kirche sich auf die Schulter, weil sie es geschafft hast, oder? Nein, denn auch das wäre ja schon wieder selbstsüchtig und somit gegen das Gesetz. Das Gesetz leben geht nur in reinster Gottesliebe. Das ist unmöglich? Ja, genau, das ist unmöglich.“
      Warum kommen wir auf die Idee, warum ist Luther auf die Idee von Sünder und Gerechter zugleich gekommen? Nun, aufgrund der Bibel:
      Röm 4:
      1 Was sagen wir denn von Abraham, unserm leiblichen Stammvater? Was hat er erlangt?
      2 Das sagen wir: Ist Abraham durch Werke gerecht, so kann er sich wohl rühmen, aber nicht vor Gott.
      3 Denn was sagt die Schrift? »Abraham hat Gott geglaubt, und das wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet.« (1. Mose 15,6)
      4 Dem aber, der mit Werken umgeht, wird der Lohn nicht aus Gnade zugerechnet, sondern weil er ihm zusteht.
      5 Dem aber, der nicht mit Werken umgeht, aber an den glaubt, der den Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit.
      6 Wie ja auch David den Menschen seligpreist, dem Gott zurechnet die Gerechtigkeit ohne Zutun der Werke (Psalm 32,1-2):
      7 »Selig sind die, denen die Ungerechtigkeiten vergeben und denen die Sünden bedeckt sind!
      8 Selig ist der Mann, dem der Herr die Sünde nicht zurechnet!«

      Der Grundgedanke dabei (aufgrund der Zeit aus Wikipedia): Der dahinterstehende Grundgedanke von Luther erstmals in seiner Römerbriefvorlesung von 1514/15, wo er Röm 4,7 LUT auslegte, formuliert: Er erklärte, dass Heilige in ihrer eigenen Einschätzung immer Sünder seien und deshalb in Gottes Einschätzung gerechtfertigt würden. Heuchler hingegen seien in ihrer eigenen Einschätzung immer Gerechte, weshalb sie in Gottes Einschätzung immer sündig seien. Daraus zog Luther den Schluss, dass deshalb beide für Gott Gerechte und Sünder zugleich seien. Durch dieses simul iustus et peccator wollte Luther den Unterschied zwischen Heiligen und Heuchlern jedoch nicht aufheben, da nur die Heiligen, die ihre eigene Sünde erkennen, durch Gottes Gnade gerecht würden. Gerecht seien sie jedoch nur dadurch, dass Gott ihnen die Sünde nicht anrechnet und das Versprechen gegeben hat, sie endgültig von der Sünde zu befreien. Die Heiligen seien somit in ihrer Hoffnung gerecht, in Wirklichkeit aber weiterhin Sünder. Heuchlern dagegen sei von vornherein der Zugang zu Gottes Gerechtigkeit verwehrt, so dass sie wirklich nur in ihrer eigenen Wahrnehmung Gerechte seien.

      So bleibt am Schluss doch nur die Reihenfolge, die bereits im Beitrag erwähnung fand: „Der Glaube ergreift allezeit allein Gnade und Vergebung der Sünden. Und dieweil durch den Glauben der Heilige Geist gegeben wird, so wird auch das Herz geschickt, gute Werke zu tun.“

    • A. Schneider

      Lieber Herr Herbert,

      vielen Dank afür Ihren Artikel. Ich habe dem eigentlichen Autor, Stud. Theol., nur folgende kleine Anmerkungen beizufügen: Das simul iustus et peccator ist tatsächlich ein zentraler Punkt lutherischer Theologie. Daher wird es bei einem lutherishen Blog natürlich auch vertreten. Ein weitere Hinweis auf den biblischen Ursprung dieser LEhre ist auch das Vater Unser, das als tägliches Gebet gedacht ist (Unser tägliches Brot gib uns heute) und somit die täglich neue Bitte um Vergebung der „Sünden“ bzw. „Schuld“.

      Über das Meiden der Sünde werden wir bald hoffentlich noch einen Artikel veröffentlichen.

  2. Schandor

    Danke für diesen wunderbaren und tröstlichen Artikel! Stimme allem zu. Was haben wir nur für einen wunderbaren Gott! Das erhebt meine Seele, denn ich weiß eines genau: der Errettete est simul justus et peccator. Punkt.

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