Auch heute gibt es nochmal einen Ausschnitt aus C. E. Luthardts „Lehre von den letzten Dingen“ von 1870 (Hier der erste Beitrag dazu, der sich besonders mit dem Verhältnis von Christentum und Israel beschäftigte). Wir finden, dass man von der sachlichen Weitsicht dieses Theologen noch immer einiges lernen kann, und hoffen, dass es Anderen auch so geht.
Zu Beginn noch einmal eine Erinnerung an die Relevanz des Themas:
Der Apostel Paulus spricht 1. Thess. 4,17 von einer Entrückung der Gläubigen dem HErrn entgegen. Es fragt sich, ob das eine nur diesem Apostel oder diesem Briefe eigentümliche sonderliche Lehre sei, oder Lehre der ganzen Schrift und in der Gesamtanschauung derselben wesentlich und notwendig begründet. Man wird getrost sagen dürfen, daß die gewöhnliche christliche Denkweise und die Eschatologie der Dogmatik in der Regel nicht recht gewusst hat, was sie mit diesem Wort anfangen solle und es deshalb meist lieber ignoriert. Aber das Ignorieren befreit die Kirche niemals von der Mühe, das Vernachlässigte doch vorzunehmen. Sie wird dazu gezwungen durch den Missbrauch. Wie die Kritik gerade an die Versäumnisse der biblischen Theologie der Kirche sich heftet, so haben auch die Sekten von jeher zumeist einzelne Momente, welche die kirchliche Anschauung übersah, oder denen sie ihr Recht nicht widerfahren ließ, herausgegriffen, mit Vorliebe ausgebildet und so der Kirche dann rühmend entgegengehalten.
Nun aber zum heutigen Aspekt: Christi Weissagungen vom Ende – was haben die mit uns zu tun und was sollen wir aus ihnen lernen?
Jesus Christus ist Ja und Amen, in ihm ist die Hoffnung der Väter erfüllt; aber so, dass diese Erfüllung selbst wieder auf eine Zukunft hinweist und uns zu Kindern der Hoffnung macht. Darum hat auch der HErr nicht bloß Verkündigung getan von dem Reich Gottes, das gekommen ist, sondern auch Weissagung von der Zukunft, die kommen sollte. Seine Weissagung ruht auf der alttestamentlichen und lässt auf diese das hellere Licht der neutestamemlichen Offenbarung fallen; und wiederum auf der Weissagung des HErrn und dem Verständnis der alttestamentlichen, welches jene darbietet, ruht alle apostolische. Gerade dasjenige Evangelium aber, das des Matthäus, welches so fleißig wiederholt, wie Alles geschehen sei, auf dass erfüllt würde was geschrieben steht in den Schriften des Alten Bundes, berichtet uns wiederum die große Weissagungsrede des HErrn, Kap.24 und 25, am ausführlichsten und vollständigsten, damit auch wir einst, wenn zu geschehen anfängt, was der HErr vorausgesagt, es sehen und verstehen können, daß dies Alles dann geschehe, auf dass erfüllt werde was hier geschrieben steht.
Die Zeit des HErrn ging zu Ende; der letzte Lockruf Jesu in Jerusalem hatte nur taube Ohren gefunden; mit einem siebenfachen Wehe (Kap. 23) hatte er Abschied von seinen Gegnern nehmen müssen. Mit der Drohung des Gerichtes hatte er diese erschütternde Rede geschlossen: „Wahrlich ich sage euch, das solches Alles wird über dieses Geschlecht kommen. Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst die zu dir gesandt sind, wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel — und ihr habt nicht gewollt. Siehe, euer Haus soll euch wüste gelassen werden. Denn ich sage euch: ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprechet: Gelobet sei der da kommt im Namen des HErrn (23, 36—39)!
So hatte dieser Tag geschlossen. Es war Dienstag der 4. April des Jahres 30 unsrer Zeitrechnung. Wenige Tage darauf starb der HErr. Die Zwischenzeit bis zu seiner Gefangennehmung gehört ausschließlich seinen Jüngern. An diese ist denn auch die große Weissagungsrede gerichtet, die sich an die letzten Streitreden mit den (Pharisäern) anschließt. Denn das Wort der Weissagung ist nur für die und wird verstanden nur von denen, welche in Jesu die Erfüllung der alttestamentlichen Weissagung erkannt haben. Das Lehrstück von der Hoffnung setzt den Glauben und die Liebe voraus; sonst erzeugt es nur Verwirrung und Schwärmerei.
Die Jünger waren durch die Drohworte Jesu erschüttert. Beim Fortgehen aus dem Tempel machen sie ihn aufmerksam auf die Schönheit und Pracht der Gebäude. Denn mit großen Kosten hatte schon vor 49 Jahren der verstorbene König Herodes einen prachtvollen Umbau des Tempels beginnen lassen, der kurz vor dem Anfang jenes Kriegs, welcher zur Zerstörung des Heiligthums führte, vollendet wurde. Es schien den Jüngern unmöglich, daß ein solcher Bau von Gott der Zerstörung preisgegeben werden sollte. Aber der HErr bestätigte ihnen seine Verkündigung. „Sehet ihr nicht dieses Alles? Wahrlich, ich sage euch, nicht ein Stein wird hier auf dem andern gelassen werden, der nicht zerstört würde“ (24,2). Welch eine Zukunft eröffnete dieß Wort! Und welche Erinnerungen alttestamentlicher Gerichtsweissagungen musste es in den Seelen der Jünger hervorrufen! Solche Gedanken und Empfindungen waren es, welche sie schweigend im Herzen bewegten, als sie die Tore Jerusalems verließen, über den Kidron gingen und den Ölberg mit ihrem Meister hinanstiegen. Dort ließ sich Jesus nieder. Vor ihm lag die Stadt, im Westen, vom Glanze der Abendsonne beleuchtet. Wehmüthig ruhte sein Blick auf ihr.
Da traten seine Jünger an ihn heran mit der Bitte um näheren Aufschluss über sein Weissagungswort: „Sage uns, wann wird das sein? und welches das Zeichen deiner Zukunft und des Endes der Welt (24,3)?“ Es sind drei Fragen den Worten nach, aber Eine ihrer Meinung nach. Denn die Jünger haben nicht etwa die Zerstörung Jerusalems, die Wiederkunft Christi und das Ende der Welt als drei zeitlich auseinanderliegende Tatsachen unterschieden, wie wir es wohl können und tun, sondern ihnen fallen diese drei zusammen, als die drei Akte des Einen großen Gerichtsdramas am Ende der Dinge. Denn so sah es nach dem alten Testamente aus. In vielen Weissagungen, besonders merkwürdig Sach. 14, verkündigten die Propheten des A.T. das Gericht über Jerusalem, mit welchem aber die herrliche und machtvolle Offenbarung Jehova’s zur schließlichen Errettung seiner Treuen und zum endlichen Gericht über die gottfeindliche Welt verbunden sein werde. So dachten sich’s die Jünger, und in diesem Sinne fragen sie: „wann wird das geschehen?“ nämlich das von Jesu verkündigte Gericht über Israel und Jerusalem, die von den Propheten geweissagte äußerste Bedrängnis des erwählten Volkes, „und welches ist das Zeichen deiner Zukunft,“ woran man das Kommen des HErrn wahrnimmt — denn an jene äußerste Bedrängnis soll sofort der Tag Jehova’s, wie es alttestamentlich heißt, das ist neutestamentlich: die Offenbarung Jesu Christi sich anschließen. Mit ihr aber kommt auch der Abschluss des ganzen gegenwärtigen Geschichtsverlaufs: „das Ende der Welt“, herbeigeführt durch die Offenbarung der Macht Jehova’s, welche auf die Zeit der Gnade folgen soll.
In diesem Sinne antwortet nun auch der HErr. Er trennt nicht äußerlich die verschiedenen Stücke, dass er zuerst von dem Einen und dann etwa von einem Andern redete; sondern er nimmt sie immer zusammen, so dass er immer von dem Ganzen zumal spricht, ohne die einzelnen Akte des Endes so auseinanderzuhalten, wie es etwa ein Geschichtsschreiber tun würde.
Denn das ist die Weise der biblischen Prophetie, wie sie auch der Herr beobachtet, immer das eine und ganze Ende zu weissagen und alles Andere und Vorhergehende nur insoweit in die Weissagung mit aufzunehmen, als es im Zusammenhang damit steht und als ein Moment desselben erscheint. Mag es zeitlich noch so weit davon getrennt sein—wie es fachlich damit zusammengehört: darauf kommt es an. Diese Weise der biblischen Weissagung hat einen guten praktischen Grund. Denn sie soll nicht Wahrsagung sein, welche der Neugierde oder auch Wissbegierde der Menschen ein Genüge tun will, sondern dem Heilsstand der Kinder Gottes soll sie dienen, diesen zu sichern gegen die Gefahren, die ihm vom Feinde Gottes und seiner Gläubigen von außen und innen drohen. Deswegen hat sie es nicht zu tun mit einzelnen Ereignissen der Geschichte, sondern mit jenem einen schließlichen Ausgang derselben, welcher ebenso voll drohenden Ernstes wie stärkenden Trostes ist.
Solche Art hält auch diese Weissagungsrede des HErrn ein. Sie gibt nicht zunächst Aufschlüsse für das Wissen, sondern eine Warnung für das Verhalten. Lasst euch nicht irre machen durch das, was euch bevorsteht und dem Ende vorhergeht! Diesen Charakter trägt der erste Abschnitt 24,4-14. Er gibt Antwort auf die Frage: Wann? Aber nicht eine direkte Antwort, sondern eine Ermahnung: sie sollen das Ende nicht zu früh erwarten, und nicht meinen, wenn das Alles eintritt, was er ihnen nennt, es sei damit das Ende da oder ganz nahe; denn das Alles, auch die allgemeine Verkündigung des Evangeliums (V. 14) muss erst vorhergehen, ehe das Ende kommt. So warnt er sie vor schwärmerischen Erwartungen des Endes, die in der Erfüllung des Berufs, auch des Zeugenberufs, lässig machen könnten. […]
Diese Ermahnungen setzt der HErr fort im Gleichniß von den zehn Jungfrauen 25, 1-10. Sie sind ein Bild der Kirche, der jungfräulichen, die ihren Bräutigam erwartet vom Himmel her; ein Bild der Gesamtheit der Kirche: das deutet die Zehnzahl an. Man muss in solchen Gleichnissen aber nicht alles Einzelne deuten wollen: das würde zu Künsteleien und Spielereien führen; sondern man muss auf die eigentliche Meinung des Gleichnisses achten. Es dreht sich aber hier alles um die Ermahnung, daß man sich gerüstet halten soll den HErrn zu empfangen, und um den Gegensatz derer die gerüstet sind und derer die nicht gerüstet sind. In diesem Sinne ist gesagt, es werde sich mit dem Himmelreich, mit seinem Kommen und mit der Aufnahme in dasselbe und Ausschließung aus demselben verhalten wie mit zehn Jungfrauen, die den Bräutigam erwarten sollten, aber nur zum Teil in der rechten Verfassung waren ihn begrüßen und mit ihm zur Hochzeitfreude eingehen zu können:
„Dann wird das Himmelreich gleich sein zehn Jungfrauen, welche ihre Lampen nahmen und ausgingen dem Bräutigam entgegen“ (25,1), der zur Abendzeit nach jüdischer Sitte im Festzug seine Braut heimholte in das Haus seines Vaters. „Fünf von ihnen waren töricht und fünf waren klug“ (25,2). Die rechte Klugheit ist: an das Ende zu denken. Diese wird allzeit und auch schließlich nur bei einem Teil der Christenheit zu Hause sein. „Die nun töricht waren, nahmen zwar ihre Lampen, aber nahmen nicht Öl mit sich“ (V. 3), so dass ihr Christenthum nicht nachhielt. „Die Klugen aber nahmen Öl in ihren Gefäßen mit ihren Lampen (V.4), so dass das innere Glaubensleben ihnen nicht ausging, wenn sie gleich auch matt und schwach wurden. „Da aber der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig, und entschliefen“ (V. 5); das soll den Gedanken ausmalen, wie lange der HErr verziehen wird: Es wird die ganze Kirche in Schlaf fallen, wenn es auch nicht an einzelnen Wachenden fehlen wird, die als Wächter auf der Zinne stehen. „Mitten in der Nacht aber entstand ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam! kommt heraus ihm entgegen!“ (V. 6.) Man sieht den Fackelschein des Hochzeitzugs von ferne: das sind die Zeichen des Endes am Himmel und auf Erden, die das Kommen des Menschensohns ankündigen. Da werden die treuen Wächter auf der Zinne ihre Stimme erheben und die Christenheit wach rufen mit ihrem Ruf: Er kommt! „Da standen alle jene Jungfrauen auf und richteten ihre Lampen zu. Die törichten aber sprachen zu den Klugen: Gebt uns von eurem Öl, denn unsere Lampen verlöschen. Es antworteten aber die Klugen und sprachen: Nicht doch! es wird gewiß nicht reichen für uns und euch; geht vielmehr hin zu den Verkäufern und kauft euch“ (V. 7 — 9). Aber wer dann nicht gerüstet ist, für den ist keine Zeit mehr sich zu rüsten. Es ist zu spät. „Während sie aber hingingen zu kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren, gingen mit ihm ein zur Hochzeit und die Tür ward verschlossen“ (vgl. 10).
Denn dann ist die Zeit der seligen Vollendung für die Gemeinde Jesu, und damit ein Abschluss für die Geschichte des Heils eingetreten. „Später aber kamen auch die übrigen Jungfrauen und sprachen: Herr, Herr, tue uns auf! Er aber antwortete und sprach: Wahrlich, ich sage euch, ich kenne euch nicht“ (V. 11, 12), denn er weiß zwar von ihnen, aber jene selige Erkenntnis seiner Liebe, mit der er nur die Seinen erkennt, erstreckt sich nicht auf sie – nicht weil Er ihr Heil nicht gewollt hätte, sondern weil sie ihr Heil versäumt haben. „So wachet nun: denn ihr wisset nicht den Tag noch die Stunde“ (V. 13) da der HErr kommt. Wer aber bei Christi Ankunft nicht in der rechten Bereitschaft steht, der hat keinen Teil an der seligen Gemeinschaft des Reiches. […]
Die Hoffnung der Zukunft ist der Trost der Gemeinde in der Gegenwart, kann aber auch für die Christen eine Gefahr schwärmerischer Erwartung der zukünftigen Herrlichkeit und bedenklicher Missachtung des gegenwärtigen Berufs werden. Nicht als wäre es die Schuld der christlichen Hoffnung, wenn sie so missbraucht wird, sondern die eignen Gedanken und Wünsche, welche sich an ihre Stelle setzen oder mit ihr verbinden, sind es, wodurch jene verderbliche Wirkung herbeigeführt wird. Aber es liegt im Wesen der Hoffnung selbst, in der Zukünftigkeit ihres Inhalts wie in den Grenzen, welche sie den Fragen des Wissens steckt, dass sie wie kein anderes christliches Lehrstück der Gefahr der Verderbung durch die eigenmächtigen Gedankengebilde, zu welchen sie den Menschen versucht, ausgesetzt ist. Wenn durchweg, so doppelt hier sollen wir uns aufgefordert fühlen, unser Denken in völligen, ehrfurchtsvollen Gehorsam gegen das Wort heiliger Schrift zu begeben, und uns zu bescheiden, nicht mehr wissen zu wollen, als was uns geoffenbart und zu wissen heilsam ist. Aber wir sollen auch nicht in falscher Bescheidung die Erkenntnisse aus der Schrift nicht erheben wollen, welche für uns in derselben niedergelegt sind und welche ungehoben liegen zu lassen ebenso den ehrfurchtsvollen Gehorsam verletzt, den wir ihr schulden, als den Segen der, sei es ermunternden, sei es warnenden Zusprache verkümmert, den uns das Wort von der Hoffnung bringen will.