„Die Wahrheit ist nicht etwa in allen fragmenta­risch enthalten!“ – Delitzschs Antiherrnhutiana

1839 hatte Franz Delitzsch wirklich genug (wir berichteten). Und etwas, was er oft genug gehört hatte, lautete wohl ungefähr: Ist doch egal, in welcher christlichen Konfession du bist, Hauptsache, du bist Christ. Damals verfochten unter anderem von der Herrnhuter Brüdergemeinde. Zeit, dass Delitzsch aufstand und das Problem beim Schopfe packte:

„Was verlier‘ ich mich wieder in der Bekämpfung eines unverlarvten reinweg negirenden Rationalismus, der das unzerstörbare Gebäude unseres Glaubens niederreißen will, um seine Maulwurfshaufen aufzuwerfen, einer gehalt­losen chamäleonartigen Vernunftlehre, in der nicht einmal die Trümmer der untergrabenen heilsamen Lehre vom Gesetz und Evangelium erkennbar sind; ich will vielmehr Einiges an­fügen über einen sowohl in Theorie als Praxis gefährlichen Abweg der herrnhutischen Brüdergemeine. Ich meine nicht ihren Irrtum in der Lehre von der Kirche, nach dem sie eine Gemeinde von Wiedergeborenen zu sein und sich ei­nes besonderen Schutzes und einer fast unmittelbaren Leitung des Heilandes zu erfreuen vorgibt; nicht ihre Geringachtung des geschriebenen Wortes Gottes, nicht das Lotterie-, Orakel-, und Grillenspiel, welches sie mit demselben treibt, nicht ihre Indifferenz in dem Bekenntnis, noch das Willkürliche ihrer Verfassung; nicht jenes ekelhafte Tändeln und Liebeln, wo­durch sie die allerheiligste Person Jesu Christi entweiht, je­nes einseitige Beruhen in gesühligen Träumereien, jenes kindische Wesen, nach dem sie jeden Kampf als schädliche Störung und jedes Wachstum in der Erkenntnis als geist­lichen Hochmut flieht und verdächtigt; nicht das Krankhafte ihrer Bruderliebe, die alle Scheidung aufhebt und alle Ketze­reien abküsst, sobald Jemand nur von dem „lieben Heilande“ salbadern kann (weshalb die Gemeinde auch ohne Weiteres der preußischen Union beigetreten und übrigens ganz unangefoch­ten ist); nicht ihr Laienpriesterthum, das alle göttliche Ord­nung aufhebt, nicht ihre Ehetheorie, die ohrbeleidigend und herzbefleckend ist, nicht ihre Feindschaft gegen die recht­gläubige lutherische Kirche, ihre Anhänglichkeit an die häreti­schen Schriften des Grafen Zinzendorf, und das Gefährliche ihrer schleichenden Verführung — das Alles ist genugsam in den Gegenschriften ehrwürdiger lutherischer Lehrer, nämlich Bengel, Fresenius, Steinmetz, Woltersdorf, Bogatzky, Hof­mann, J. G. Walch u. v. A. mit warnender seelsorgerischer Stimme gerügt worden.

Nur das will ich etwas weitläufiger erwähnen, dass sie das Evangelium auf Kosten des Ge­setzes treiben und an ketzerischen Antinomismus streifen; dass sie das versöhnende Leiden unseres Herrn Jesu Christi, welches sie mit Verschmähung der übrigen prophetisch-apo­stolischen Lehre zum einigen Grunddogma uud Schibolet iso­liren, für eine genügsame Gesetzespredigt halten, da doch dar­aus nur die Größe des Zornes Gottes, nicht die Beschaf­fenheit und Art unserer Sünde erkannt wird; dass sie eine allgemeine Erkenntniß der Sündhaftigkeit für genügend und eine bis in die innersten Winkel und Falten des Her­zens mit dem Lichte göttlichen Gesetzes vordringende Sündenerkenntnis für unnötig halten; dass sie von einem Kampf der Buße wenig oder gar nichts wissen wollen, und die Bekehrung mit einer vorschnellen Getröstung der Sündenvergebung ohne vorausgegangene Zerknirschung und Zerschlagenheit des Herzens für abgethan halten, was schon A. H. Francke, J. A. Freylinghausen und C. Rieger in öffentlicher Predigt an ihnen zu strafen sich gedrungen fühlten; dass sie eben deshalb auf eine seelengefährliche Weise Erweckung und Bekehrung miteinander verwechseln; dass sie, indem ihnen schon ein weichliches süßliches Reden über göttliche Dinge für Christentum gilt, den Bruch der sündhaften Na­tur, der durch wahre Buße zu Stande kommt, verhindern und daher für die Aufnahme auch des gerechtesten Tadels, weil sie nicht ohne Selbstdemütigung und Selbstverleugnung geschehen kann, unfähig sind.

Indem ich dies aus­spreche, nicht ohne vielfache eigne Erfahrung, tadle ich den Charakter des Herrnhutismus, und gebe gern zu, daß in der Brüdergemeine auch redliche heilsbegierige Seelen sind, die, wenn man ihnen die volle heilsame Wahrheit entgegen­brächte, sich nicht länger mit dem halbirten, selbsterwählten Wesen einer separatistischen Gemeinde begnügen würden. Wir glauben ja eine unsichtbare Kirche, die Gemeinde der Außerwählten, deren Glieder allein für das allsehende Auge Gottes erkennbar und übersehbar sind – aber diese unsicht­bare Kirche ist keine Heilsanstalt, sondern die Gesammtheit derer, welche durch die Gnadenmittel wahrhaft wiedergeboren sind und zum ewigen Leben behalten werden, Verwalterin dieser Gnadenmittel ist allein die sichtbare Kirche. Der sichtbaren Einzelkirchen gibt es mehrere, aber nur Eine ist die wahre. Die Wahrheit ist nicht etwa in allen fragmenta­risch, d. h. in keiner unverfälscht, enthalten. Diese, allerdings der neueren Humanität entsprechende Ansicht, welche oft durch die dre Ringe Nathan des Weisen sinnbildlich unterstützt wird, leistet der unseligen Zweifelsucht und dem gefährlichen Indifferentismus Vorschub. Hätte Gott uns über seine Gnadenmittel im Dunkel lassen wollen, so wären seine Anstalten zu unsrer Seligkeit unvollkommen; wäre das Wort Gottes unzureichend, um uns in den Stand zu setzen, reine Lehre von falscher zu unterscheiden, so wären wir ungückselige, den Wogen des Meeres preisgegebene Menschen. Aber Gott sei Dank! Die Heilige Schrift ist eine hellscheinende Sonne, deren Strahlen von der erleuchtenden Gnade in unsere Seele getragen werden; nur wer in boshaftem Widertreben seine Augen zudrückt und sein Herz verschließt, bleibt in der selbstverschuldeten Finsternis, die er lieb hat. Es gibt eine wahre sichtbare Kirche mit den erkenntlichen Merkzeichen der reinen Predigt des Evangeliums und der Verwaltung der Sakramente nach Christi Einsetzung, eine Kirche, die sich in dem Haushalt über die ihr anvertrauten Gnadenmittel Gottes nicht durch Unterschleif und Veruntreuung verschuldet, und diese Kirche ist, klein oder groß, befriedet oder befehdet, gepriesen oder geschändet, blühend oder verfallen, eine Stadt, die auf dem Berge liegt und die so leicht keinem verborgen bleiben kann, der sie sucht; die nicht untergeht, wenn auch Wolken sie eine zeitlang umhüllen, finsterste Nacht über sie hereinbricht, und dicke Nebel nach ihr emporsteigen. Denn sie hat die felsenfeste Verheißung:

‚Wenn gleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einfielen – dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind. Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie fest bleiben; Gott hilft ihr früh am Morgen.‘ (Ps. 46, 4-6)“

Aus: Delitzsch, Luthertum und Lügentum, 69-73.

 

2 thoughts on “„Die Wahrheit ist nicht etwa in allen fragmenta­risch enthalten!“ – Delitzschs Antiherrnhutiana

  1. Tobias

    Liebe Brüder, vielen Dank für euer „Lutherisches Lärmen“ – haltet es bitte weiterhin „am Leben“,.. diese
    theologisch klaren und sauberen Gedanken unserer „Väter“ sind sooo wichtig in dieser
    vom „worship-Geseiere“ hypnotisch vernebelten Zeiten.

    • theologicus

      Lieber Tobias,
      vielen Dank für die Ermutigung – wir tun unser Bestes!

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