In seinen „Apologetischen Vorträgen“ hat sich Christoph Ernst Luthardt auch der Bedeutung des Gebets zugewandt und dabei kurz das Vater Unser erklärt. Hören wir ihm zu:
„Wir sind zur Arbeit in der Welt geschaffen. Was der Herr von sich sagt: ich muss wirken so lange es Tag ist; es kommt die Nacht da Niemand wirken kann, das gilt auch für einen Jeden von uns. Es ist die sittliche Kraft unsres Willens, mit welcher wir wirken, und es ist die sittliche Gesinnung, die wir in unser Wirken hineinlegen, nach welcher sich der Wert desselben bemisst. Aber bleibenden Gehalt und wahren Wert hat unser Leben und Wirken in der Zeit nur dann, wenn es von den Kräften der Ewigkeit beseelt und erfüllt ist. Denn von diesen lebt unsere eigene Seele. Unser Leben bewegt sich auf Erden und unsere Arbeit gehört dem irdischen Beruf und der Zeit an. Aber die Wurzeln unseres Daseins sollen hinabreichen in jene Tiefe, wo die ewigen Quellen fließen, aus denen uns für unsere Arbeit hier auf Erden Kraft und Stärkung zuströmt. Diese Quellen sind das Gebet und das Wort Gottes, und die Verwalterin des göttlichen Wortes ist die Kirche. So lassen Sie mich denn, ehe ich mich in den nächsten Vorträgen zur Betrachtung unserer mannigfaltigen irdischen Lebensaufgaben wende, heute von dem religiösen und kirchlichen Leben des Christen zu Ihnen sprechen.
Die Seele des religiösen Lebens ist das Gebet.
Wir wissen alle, dass uns Jesus mehr ist als nur ein Vorbild. Aber wenn er uns auch nur ein Vorbild wäre, so könnten wir über die Bedeutung, welche das Gebet für unser ganzes Leben hat, keinen Augenblick zweifelhaft sein. Denn wenn wir das Leben Jesu betrachten, so werden wir alle den Eindruck gewinnen, es ist ein stetes Leben des Gebets gewesen. Es war ein Leben der Arbeit, der verzehrenden Arbeit; aber alle Arbeit ruhte auf dem Gebet, auf dem inneren Verkehr seiner Seele mit seinem Vater. Vor jedem Wort, das er redete, vor jedem Wunder, das er verrichtete, wandte er sich – das können wir deutlich erkennen – innerlich immer zuerst an seinen Vater. Und wenn die Tage dem Beruf gehörten, so widmete er die Einsamkeit der Abende oder der Morgen oder die Stille der Nächte dem Gebet. Jede Stimmung die seine Seele bewegte ward ihm zum Gebet, und als am Ende die Angst seiner Seele ihn zu übermannen drohte, flüchtete er zu seinem Vater im Gebet.
Von jeher, seit wir etwas vom Leben der Menschen auf Erden wissen, hat man gebetet. Man kann keine Zeit nennen, wo das Gebet aufgekommen wäre. Niemand hat es erfunden. Denn es ist dem Menschen natürlich zu beten. Das Kind lernt es fast ehe es sprechen lernt, und der Greis übt es wenn er nichts anderes mehr zu tun vermag. Es ist das Erste in der Geschichte der Menschheit, und es wird das Letzte sein in den Zeiten des Endes, von denen die Schrift weissagt. Es gibt kein Volk welches das Gebet nicht kennte. Denn es gibt kein Volk welches nichts von Religion wüsste. Der Mittelpunkt der Religion aber ist das Gebet. Unter den heidnischen Völkern hat es seine Wahrheit und Innerlichkeit verloren; es ist zu einem äußerlichen Wert geworden; aber es ist doch da auch in seiner Entstellung noch ein Zeugnis für das innerste Bedürfnis der menschlichen Seele. Im Volk der Offenbarung hat es die Stätte seiner reichsten und schönsten Blüte gehabt. Die Gebetsworte der Psalmen bewegen noch ietzt nach Jahrtausenden unsere Seele. Aber das höchste Vorbild des Gebets ist das Leben des HErrn.
Von ihm lernen wir, welche Stellung das Gebet im Leben des Christen einnehmen soll. Wir pflegen einzelne Zeiten auszusondern, in welchen wir das Gebet üben. Aber es soll doch nicht auf diese einzelnen Zeiten beschränkt sein. Das Gebet ist der stete Hintergrund des Lebens des Christen. Von ihm soll all sein Tun und Leben stets getragen sein; in ihm soll es alles seinen Anfang nehmen, in ihm sein Ziel finden. Das ist der Maßstab für unsern inneren Stand, ob es uns geläufig ist im Gebet zu stehen. Das Leben des Christen soll ein Gebetsleben sein. Auf diesem Hintergrunde soll sich dann die einzelne Übung des Gebets bewegen und in den Zusammenhang unseres übrigen Lebens hineintreten. Der regelmäßige Lauf des Tages mit seiner Wiederkehr des Morgens, Mittags und Abende, der stetige Gang der Wochen und Jahre, einzelne Tage und Zeiten heiliger Erinnerung, besondere Erlebnisse die unsere Seele bewegen, Sorgen und Nöte die schwer auf uns lasten, Erfahrungen der göttlichen Güte die uns zu Teil geworden, die mannigfachen Bewegungen und Stimmungen unseres Inwendigen – das alles soll uns Aufforderung und Anlass zum Gebete werden, damit so unser ganzes Leben in der Zeit sich mit dem Hauch der Ewigkeit erfülle.
Was heißt beten! Was ist das Gebet?
Im täglichen Leben mit seiner Arbeit und seiner Unrube ist es die äußere Welt die uns in Anspruch nimmt und von uns selber abzieht. Im Gebet gehen wir in uns selbst hinein, in die Stille des inneren Heiligtums, in welchem wir die Nähe Gottes haben. Beten heißt sich innerlich zu Gott begeben, aus dieser Welt der Vergänglichkeit hineintreten in die Welt der Ewigkeit, um ihre reine und belebende Luft zu atmen. Wir können leiblich nicht leben, ohne die Luft dieser irdischen Welt zu atmen. Unsere Seele kann nicht leben, ohne die Luft der ewigen Welt zu atmen. Das Gebet ist das Atemholen der Seele. Der Geist des Menschen verkümmert, wenn er nicht in Geistesverkehr mit anderen steht. Kein Mensch steht uns näher als Gott. Unser inwendiger Mensch verkümmert ohne den geistigen Verkehr unserer Seele mit Gott. Das Gebet ist der innere Verkehr der Seele mit Gott. Die Liebe kann nicht sein, ohne ihr Herz zu erschließen und auszuschütten gegen den Geliebten. Denn eine Liebe die sich in sich felbst abschlösse, wäre keine Liebe. So drängt es auch die Liebe des Kindes Gottes ihr Herz auszuschütten gegen den Vater im Himmel im Gebet. Es wäre ihr widernatürlich es nicht zu tun. Nichts ist für den Christen natürlicher als das Gebet.
Was wir beten sollen, hat uns Christus in dem Gebete gezeigt, welches er seinen Jüngern gelehrt hat. Das Vater Unser ist das Gebet aller Gebete. Kurz und schlicht, und doch so reich, daß es Alles umfasst, und ein Jeder anschließen kann was sonst noch seine Seele sonderlich bewegt. In der Anrede sprechen wir unsern fröhlichen Glauben aus, dass Gott der Vater uns seinen Kindern gerne helfen will und als der Allmächtige, der vom Himmel aus über die Erde waltet, auch helfen kann. Darauf gründen sich die Bitten die wir vor ihn bringen. Aber nicht unsere Sache bringen wir zunächst vor ihn, sondern vor Allem seine eigene Sache. Denn die Liebe sucht vor Allem was des Andern ist. Dein Name werde geheiligt, dein Reich komme, dein Wille geschehe. Daß Gott wie er sich geoffenbart hat auch anerkannt werde von den Menschen in Wort und Werk, das ist das Erste. Dies ist der Weg auf welchem sich das Reich Gottes verwirklicht: die selige Herrschaft Gottes, in welcher sein Wille allein gilt und zum Vollzug kommt. Auf diese Zukunft richtet sich mit sehnlichem Blick die dritte Bitte. Aber wie viel Not des irdischen Lebens liegt noch auf dem Wege zwischen hier und dort! Zu dieser Not herab steigen die Gedanken des Betenden sodann. Die leibliche Not ist die erste, welche seine Bitte dem Helfer in aller Not vorträgt. Denn das leibliche Leben ist die Grundlage des geistlichen. Aber den Raum nur Einer Bitte nimmt sie ein. Die andern sind alle der Not der Seele gewidmet. Dass Gott uns die Schuld der begangenen Sünden vergeben möge, das ist das erste und nötigste was unsere Seele braucht; dann folgt, dass Gott uns vor fernerer Schuld bewahren möge; und endlich dass Gott uns aller Versuchung und Anfechtung dieses Lebens entnehme — damit schließen die Bitten. Die Kirche hat noch einen Lobpreis hinzugefügt: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“, um in diesen Worten wie in einem volltönenden Akkord die ganze Bewegung unseres Inneren gleichsam ausklingen zu lassen.
Sie sehen: in lieblichem Zusammenhang reiht sich eine Bitte an die andere, und ihre Siebenzahl schließt sich zu einem Ganzen zusammen, das so einfach ist dass es jedes Kind beten kann, und doch wieder so groß und reich, dass es auch der gefördertste Christ nie ausbeten wird. Was auch unsere Seele bewegen möge — wir können und sollen es alles in die Worte dieses Gebotes hineinlegen, oder in eigenen Worten diesem Gebete hinzufügen.“
Aus: C.E. Luthardt, Vorträge über die Moral des Christentums (Apologie des Christentums), Leipzig 1873, 65-68