Unter christlichen Zeitgenossen ist es eine weitverbreitete Idee, dass der jeweilige Glaube sich vor allem darauf bezieht, was man selbst erfahren hat. Das ist kein völlig neuer Gedanke. Zum einen hat er einen Anschein von Empirik und damit von Wissenschaftlichkeit. Diese beiden Substantive waren es auch, die die Aufklärung im späten 18. Jhd. gern als etwas darstellte, das es vor ihr selbst, besonders im religiösen Bereich, nicht gegeben habe. Eigentlich ein wahrer PR-Coup, da Wissenschaftlichkeit weder einem Thomas von Aquin noch einem Luther abgesprochen werden kann. D.h. natürlich, Wissenschaftlichkeit in der ursprünglichen Definition – als des logisch sauberen, objektiv nachvollziehbaren und unvoreingenommenen Denkens, nicht, was wir heute manchmal darunter verstehen: das, was Wissenschaftler so sagen.
Dessen unbenommen war der Angriff sehr erfolgreich und schuf in der damaligen Theologie den Druck, sich eines anderen apriori zu bedienen als der göttlichen Offenbarung in der Schrift. Und so betrat das „religiöse Gefühl“ als Ankerpunkt theologischer Wissenschaft die Bühne: in dieser Form etabliert von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, dem wohl bekanntesten Theologen des 19. Jahrhunderts. Seither wird er von „liberalen“ Theologen sehr wohlwollend rezipiert, evangelikale Theologen tun dies seit 5 Jahren ebenso. Ganz aus dem Nichts kommt Schleiermacher damit natürlich nicht, spielt das Thema Erleben und Erfahrung parallel und zum Teil konträr zur Aufklärung doch kulturell in der romantischen Bewegung und kirchlich im weit älteren Pietismus schon eine große Rolle. Aber genug der Geschichte an dieser Stelle: dieses Denken, damit haben wir begonnen, dass letztlich entscheidend sei, was ich selbst erfahren habe, gilt heute ganz genauso – die Frage, wie ich mich fühle und wie es mir bei etwas ging, ist nicht umsonst ein Klischee von Psychotherapie und schlechter Seelsorge.
Wie begegnet uns das Gefühl als axiomatische und empirische Grundlage des Glaubens heute? In einem bestimmten Jargon kann das heißen: „Ich habe Gott in … gespürt.“ Wahllos können in den Satz z.B. aus dem Kontext gelöste Bibelverse, Liedtexte oder ein Kätzchenmeme eingesetzt werden. Was hier betrieben wird, heißt im theologischen Fachjargon natürliche Theologie, das Ableiten von Aussagen über Gott oder mich selbst aus der materiellen Welt (die meine Gefühle und mich als rezipierendes Subjekt einschließt). Es ist dabei natürlich nichts an sich Negatives, im Wald und auf der Heide oder beim Lobpreisabend mit Lichtshow und Emotionsgewitter Gott zu spüren. Emotionen, die mit dem Wirken des Heiligen Geistes in Verbindung gebracht werden – Trost, Freude, Zorn, Frieden – sind Teil des christlichen Lebens auch eines Martin Luther, der dazu gleich noch zu Wort kommen wird, gewesen.
Die Frage ist, wie so oft, die dritte im Triumvirat der epistemologischen Fragen: „Wie kann ich mir meines Wissens sicher sein?“ Dies ist keine engstirnige Polemik gegen eine bestimmte Glaubensweise, denn es ist besser sich selbst zu fragen „Hat Gott wirklich gesagt?“ (1. Mose 3,1), bevor es jemand anders tut. Wie kann ich also differenzieren zwischen dem, was ich tatsächlich von Gott erfahre und dem, was mir durch andere Umstände eingebildet wird? Wie unterscheide ich zwischen den Folgen religiöser „Propaganda“, emotionaler Manipulation und dem Wirken und Sprechen Gottes? Anders gefragt: Ist die Setzung individueller emotionaler Erfahrung als fundamentaler Eckstein meines Glaubens berechtigt, also von Gott so vorgesehen?
Befürworter werden jetzt sagen: Ja, denn nur so gelingt mir authentisches Christsein. Authentizität und ihr Ruf danach ist ja ebenfalls eine recht moderne Idee, auch hier kommt, bei genauerem Hinschauen, der Pietismus wieder zutage, dem ja die Frage nach der tatsächlichen Echtheit des Glaubens tiefste Triebfeder war. Etwas zu glauben, was man nicht selbst erfahren hat, sondern nur auf den Buchstaben hin – das mutet absurd an und macht verdächtig. Das kann nicht „echt“ sein.
Nun lässt sich ja bereits mit Blick auf Bekenntnisschriften und Bibel erkennen, dass diese den Ausgangspunkt anders setzen: Nicht mein Verstehen, Nachvollziehen, Erleben oder wenigstens noch für akzeptabel halten ist der Garant für Echtheit, für Wahrheit. Der Blick wird permanent von mir weggelenkt:
Wir glauben, lehren und bekennen, daß die einzige Regel und Richtschnur, nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurteilt werden sollen, sind allein die prophetischen und apostolischen Schriften Alten und Neuen Testaments; wie geschrieben steht: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege“, Ps. 119.
In den Schmalkaldischen Artikeln spricht Martin Luther noch deutlicher. Im Abschnitt über die Buße schreibt er:
Das ist alles der alte Teufel und alte Schlange, der Adam und Eva auch zu Enthusiasten machte, vom äusserlichen Wort Gottes auf [Schwarm]Geisterei und Eigendünkel führte und tat’s doch auch durch andere äusserliche Worte. […] Darum sollen und müssen wir darauf beharren, daß Gott nicht anders will mit uns Menschen handeln als durch sein äusserlich Wort und Sakrament. Alles aber, was ohne solch Wort und Sakrament vom Geist gerühmt wird, das ist der Teufel.
Und auch in der Schrift muss man lange nach einem Propheten suchen von dem es heißt: „Die ankommende Gewitterfront weckte in Habakuk ein Gefühl der Allmacht und des Drohens Gottes. Jahwe musste ihm hiermit ein Zeichen geben wollen. Nur was?“ Statt dessen (2.Mose 34,27): „Und der HERR sprach zu Mose: Schreibe dir diese Worte auf!“, Jes 8,1 „Und der HERR sprach zu mir: Nimm dir eine große Tafel und schreibe“, Jes 6,8 „Und ich hörte die Stimme des Herrn, der sprach:“
Warum reden Schrift und Bekenntnis denn nicht von natürlicher Theologie? Weil sie sie zuendegeführt haben: Am Ende muss das menschliche Suchen ohne Schrift immer bei einem abwesenden Gott, „deus absconditus“ enden: Dem Gott, der unbarmherzig und fern auf Gerechtigkeit pocht, sich von meinen Sorgen und Nöten abwendet, und mich verdammt, der Gott des Gesetzes also.
Dass dieser Gott des Gesetzes uns so zusetzt, das liegt natürlich daran, dass wir sündige Menschen sind (und als Christen bleiben): Wir verführen uns selbst, und müssen erkennen, dass wir aus eigener Kraft nicht so leben können, wie wir sollten. Wir werden schuldig, nicht nur am Anspruch Gottes, sondern auch an Mitmenschen und der Welt. Die Sünde aber greift uns dann an: Gottes heiliges Gesetz sagt doch! Die Erfahrung und das Gefühl muss dann mit Blick auf sich selbst sagen: Ich bin nicht würdig dazu, denn ich bin kein guter Christ, denn ich entspreche nicht den Forderungen des Gesetzes Gottes.
Das zu erkennen ist ja die Voraussetzung und auch ein immerwährender Bestandteil des christlichen Glaubens. Denn indem ich erkenne, dass ich selbst mir mein Heil nicht schaffen kann, ich nicht aus eigener Kraft den Ansprüchen genügen kann, wende ich mich zu Christus und vertraue ganz auf ihn. Dass uns zugesetzt wird, das bedeutet also letztlich, dass Gott an unserer Tür klingelt, und wir ihm öffnen sollen.
Genau hier aber wird das Problem deutlich: Die Erfahrung, das Erleben, sie zeigen dann eben genau nicht auf Gott, sondern sie zeigen auf mich als den fehlerbehafteten Menschen. Im abwesenden Gott läuft der Erfahrungsglaube stets Gefahr, fehl zu gehen. An dem, was man spürt, kann man sich gerade nicht festhalten; Gefühle vergehen, und der Ursprung der Gefühle ist stets dem Zweifel ausgesetzt. Der Blick auf Christus, er kommt nicht zustande durch möglichst viel Gefühl. Denn er ist ein kontrafaktischer Blick: Das Erleben verdammt mich. Nur die Worte der Schrift, die mir gepredigt werden, sagen es anders. Sie weisen mich zum Kreuz hin, zu dem Christus, der für mich gestorben ist. „Der liebe Gott will nicht, dass wir uns selbst in unserer Trübsal das Herz verzehren sollen, sondern will, dass wir ihm unser Anliegen vortragen, er will gerufen werden, er begehrt das Gebet von uns und hat es gern“, so ein Andachtsbuch um 1600, was diesen Punkt gut erfasst. Wir sollen uns von uns selbst weg hin zu Gott wenden, ihn suchen. Und dabei, so das Zeugnis der Schrift, geht es auch darum, geduldig zu bleiben. Gerade da, wo Gott sich naht, stellt er sich, als sei er am allerfernsten.
Als die Israeliten ihn anriefen, so schreibt das Richterbuch (Kap. 10), versagte er ihnen die Hilfe, tat, als wende er sich ab. Aber sie ließen sich nicht von ihm, und, so heißt es: „Da jammerte es ihn, dass Israel so geplagt wurde.“ So wie in diesem Beispiel bezeugen es die biblischen Geschichten zuhauf: Gott lässt auf sich warten, und der Mensch macht die Erfahrung, dass Gott nicht antwortet, ja sogar, dass es, je länger er ihn anruft, um so ärger erscheint. Unsere Vernunft verbittert an solchem Verzug, und wollte gern, dass Gott uns urplötzlich erhören würde – wie gebetet, so getan. Aber so ist es nicht. Gott stellt sich unserer Erfahrung in allen Dingen anders dar, anders, als das Schriftwort uns zusichert. Deshalb müssen wir als Grundlage unseres Glaubens festhalten am Wort der Schrift, am „verbum externum“ dem Wort das von außen an uns herantritt, und nicht an dem, was lediglich in uns selbst entspringt. Stattdessen müssen wir zu Gott schreien, wie die kanaanäische Frau (Mt 15,21-28). Von ihr wendet sich Christus ab, ja er beleidigt sie sogar – und doch hält sie fest an seiner Verheißung. Sie gibt ihm Recht, dass sie unwürdig sei, und glaubt allein an die Verheißung – und so wird ihr Glaube erfüllt.
Gott spüren zu wollen und den eigenen Glauben anhand der erlebten Erfahrung authentisch abzusichern, das führt dazu, die Erfahrung zu machen, dass Gott nicht antwortet (spätestens am Tag nach dem großen Worshipereignis mit dem guten Gefühl). Wenn uns unser Gewissen vor Gott verklagt, ist Christus weder im Wald, noch in der Lichtshow, noch in der Stille zu finden. Dann hilft uns unser Gefühl nicht, sondern wendet uns von Gott ab. Der feste Anhaltspunkt, auf den wir dann vertrauen können, ist das Wort der Schrift, das Wort Gottes, von dem er nicht ein Jota fallenlassen wird. Gefühle haben ihren wichtigen Platz im Leben jedes Gläubigen: sie begleiten und entstehen durch das äßere Handeln Gottes an uns und werden durch es geweckt. Sie sind aber nicht Beweis für sein Handeln und nicht Grundlage, sondern Gnade.
Also wenn der (z.B. pietistische) Vorwurf lautet: „ihr Lutheraner hängt euch ja am toten Buchstaben auf, in eurem Glauben ist gar kein Leben“, so kann der Lutheraner antworten, dass wir allerdings am Buchstaben – und nur an ihm, nur an der Schrift – unseren Glauben festhängen. Tot ist das Ganze aber ganz und gar nicht. Denn Gott gibt uns dieses feste Wort in vielfälter Form, „denn Gott ist überschwenglich reich in seiner Gnade: erstlich durchs mündliche Wort, darin gepredigt wird Vergebung der Sünden in aller Welt, welches ist das eigentliche Amt des Evangelii; zum andern durch die Taufe; zum dritten durchs heilige Sakrament des Altars; zum vierten durch die Kraft der Schlüssel und auch per mutuum colloquium et consolationem fratrum [durch das gegenseitige Versammeln und Trösten der christlichen Geschwister] Ubi duo fuerint congregati etc.[Denn wo zwei [oder drei] versammelt sind etc.]“ (Luther in den Schmalkaldischen Artikeln). Gerade dieser Satz zeigt uns noch einen weiteren Aspekt: Es hilft uns nicht, auf das, was wir, jeder für sich, erleben, zu schauen. Die Gnadengaben (s.o.: Taufe, Abendmahl, Predigt des Evangeliums), die Christus der Kirche gegeben hat, um ihren Glauben zu stärken, sie sind in Gemeinschaft zu gebrauchen. Denn es ist gut, wenn wir uns das hoffnungsgebende Wort von Christus, der unser Glaubensgrund ist, nicht selbst sagen, sondern uns damit bepredigen lassen, die christliche Gemeinschaft suchen: Wo zwei oder drei unter diesem Wort sind, ist Christus mitten unter ihnen.