Wir freuen uns sehr über einen neuen Mitautor! Tim-Christian Hebold hat sich uns zugesellt. Bis zum Vordiplom Student der katholischen Theologie, nun Evangelische Theologie und Islamische Theologie.
Als Christen glauben wir an die eine, heilige, allgemeine und apostolische Kirche. So bekennen es römische Katholiken und Lutheraner mit dem Nizäno-Konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis von 381, das sowohl zum offiziellen Bekenntnisstand der römisch-katholischen als auch der evangelisch-lutherischen Kirche gehört.
Aber was ist diese Kirche? Was macht sie aus, was konstituiert sie? Auf diese Fragen geben Katholiken und Lutheraner durchaus unterschiedliche Antworten (und wir haben auch hier, hier und hier schon etwas darüber gesagt). Martin Luther schreibt in den Schmalkaldischen Artikeln lapidar: „[E]s weiß, Gott Lob, ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche ist: nämlich die heiligen Gläubigen und die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören.“ Die Stimme des großen Hirten und Bischofs der Seelen, Jesus Christus, die in dieser Weltzeit überall dort ertönt, wo „das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden“ (CA 7) – sie erzeugt Glauben, sie macht Kirche. „[A]uf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen“, spricht Christus (Mt 16,18). Und Er tut es durch sein Wort. Wer diejenigen hört, die es treu verkünden, der hört Ihn (vgl. Lk 10,16), auch wenn sie in seinem Namen sprechen: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Die Kirche – so kann es die evangelische Theologie daher sagen – ist nichts anderes als ein Geschöpf des Wortes (creatura verbi). „Wo das Wort ist, da ist die Kirche“, so Luther.
Auch die römisch-katholische Theologie weiß um die Bedeutung des Wortes. Aber ihr Verständnis davon, was das Wort Gottes ist, und wie es sich zur Kirche verhält, unterscheidet sich fundamental von dem lutherischen. In der dogmatischen Konstitution über die Göttliche Offenbarung Dei Verbum heißt es: „Die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift bilden den einen der Kirche überlassenen heiligen Schatz des Wortes Gottes“ (Dei Verbum, II,10). Anders als die evangelisch-lutherische Kirche, für die die einzige Regel und Richtschnur (unica regula et norma) letztlich die prophetischen und apostolischen Schriften des Alten und Neuen Testaments sind, umfasst das Wort Gottes aus römisch-katholischer Sicht auch diejenigen kirchlichen Traditionen, die vom hierarchischen Lehramt der Kirche (magisterium ecclesiae) für gut und authentisch befunden worden sind. So kann die römische Kirche auch immer wieder Lehren zum allgemeinen Glaubensgut erklären – z.B. die Erbsündenfreiheit Mariens (1854) und ihre leibliche Aufnahme in den Himmel (1950) –, obwohl diese sich nicht in der Schrift finden und in den ersten vier Jahrhunderten der Christenheit gänzlich unbekannt waren. Die Kirche ist also aus römisch-katholischer Sicht kein bloßes Geschöpf des Wortes, sondern steht als Mutter und Lehrmeisterin (mater et magistra) gewissermaßen auslegend und scheidend über dem Wort – ja, mitunter macht sie das Wort. Dazu befähigt und ermächtigt glaubt sie sich durch den Herrn Christus selbst, der zu diesem Zweck „in seiner Kirche verschiedene Dienstämter eingesetzt [hat], die auf das Wohl des ganzen Leibes ausgerichtet sind“ (Lumen Gentium, 18). Diese Ämter sind aus römisch-katholischer Sicht kirchenkonstitutiv. Hans Urs von Balthasar (gest. 1988), einer der bedeutendsten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts, bezeichnet die Hierarchie denn auch als „Skelett des Leibes Christi“. Genauso wenig, wie ein menschlicher Leib ohne Knochen denkbar ist, ist Kirche ohne geweihte Priester, Bischöfe und den jeweiligen Papst denkbar. Als sichtbares und monarchisches Oberhaupt ist letzterer der Garant der irdischen Einheit und Sichtbarkeit der Kirche, sodass der Theologe Robert Kardinal Bellarmin (gest. 1621) sagen konnte, die Kirche sei „so sichtbar und greifbar wie die Gemeinschaft des römischen Volkes oder das Königreich Frankreich oder die Republik Venedig“. Aber mehr noch: Die Anerkennung dieser hierarchischen Struktur mit dem Papst an der Spitze wurde in der Vergangenheit sogar zum heilsnotwendigen Glaubensakt erklärt! In seiner 1302 erlassenen Bulle Unam Sanctam schreibt der damalige Papst Bonifaz VIII.: „Wir erklären, sagen und definieren nun aber, daß es für jedes menschliche Geschöpf unbedingt notwendig zum Heil ist, dem Römischen Bischof unterworfen zu sein.“ Mit anderen Worten: Ohne Papst keine Kirche im Vollsinn, ohne Papst kein Heil. Auch wenn diese Lehre von heutigen katholischen Theologen und Bischöfen nicht mehr mit derselben Schärfe und Vehemenz vertreten wird und durch die Beschlüsse des II. Vatikanums (1962-1965) de facto ausgehebelt ist, so gehört sie doch noch immer zum offiziellen Bekenntnisstand der römischen Kirche.
Was ist aus lutherischer Perspektive hierzu zu sagen? Wir wollen uns in unserer Antwort von der oben bereits erwähnten Definition der Kirche als creatura verbi leiten lassen:
Erstens: Weil die Kirche Geschöpf des Wortes ist, sich selbst und den Glauben ihrer Glieder ganz und gar dem schöpferischen Wort Gottes verdankt, ist sie nicht Herrin über, sondern Hörerin, Dienerin und Trägerin des Wortes. Sie erlässt keine neuen Kirchengebote, die die Gewissen verpflichten, bringt auch keine Dogmen hervor, die keinen Schriftgrund haben, sondern verkündigt in „erhabener Monotonie“ (Sasse) einzig und allein den apostolischen Glauben, „der ein für alle Mal den Heiligen anvertraut ist“ (Jud 1,3) und durch den die Sünder selig werden. Mutter ist die Kirche nur insofern, als sie die Gnadenmittel (Wort und Sakramente), durch die der Heilige Geist die geistliche Wiedergeburt wirkt, der Welt darreicht. So auch Luther im Großen Katechismus: Der Heilige Geist hat „eine besondere Gemeinschaft in der Welt, die die Mutter ist, die einen jeglichen Christen zeugt und austrägt durch das Wort Gottes, das der Heilige Geist offenbart und in Gebrauch hält, und er erleuchtet die Herzen und feuert sie an, dass sie es begreifen, aufnehmen, daran hängen und dabei bleiben.“ Es stimmt: Auch aus lutherischer Sicht ist „die Gemeinde des lebendigen Gottes, ein Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit“ (1 Tim 3,15). Aber die Kraft zu dieser Funktion hat sie nicht aus sich selbst heraus, noch ist sie irgendeiner Partikularkirche unverbrüchlich eingestiftet. Allein die Treue zu dem Wort, aus dem sie selbst geboren ist, lässt sie zur Lehrerin und zur Zeugin für die Völker werden.
Zweitens: Weil die Kirche Geschöpf des Wortes ist, ist ihre Existenz nicht im absoluten Sinne an das Vorhandensein bestimmter Ämter oder Kirchenverfassungen gebunden. Ob die Kirche episkopal, synodal oder kongregationalistisch verfasst ist, ist zweitrangig, solange die Kennzeichen der Kirche (notae ecclesiae) vorhanden sind: die Predigt des Evangeliums von der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben allein und die schriftgemäße Feier und Darreichung der heiligen Sakramente, Taufe und Herrenmahl. Das kirchliche Amt ist weder Selbstzweck noch Konstitutivum, sondern steht aus lutherischer Perspektive ganz im Dienste dieser kirchenschaffenden Grundvollzüge. Zwar lehrt auch das lutherische Bekenntnis, „dass niemand in der Kirche öffentlich lehren oder predigen oder das Sakrament reichen soll ohne ordentliche Berufung“ (CA 14). Damit verbindet sich aber keine Vorstellung einer nur vom Bischof zu verleihenden Weihevollmacht der Ordinierten (potestas ordinis). Predigtdienst, Taufe, Absolution und Feier des Altarsakraments können im Not- und Verfolgungsfall auch von (zuvor) Nicht-Ordinierten versehen werden. So kann Luther in De captivitate Babylonica Ecclesiae sogar kategorisch sagen, dass Christus „die Vollmacht der Absolution von den notorischen Sünden jedem beliebigen Gläubigen gegeben hat.“
Drittens: Weil die Kirche Geschöpf des Wortes ist, ist sie nicht Seh-, sondern Glaubensartikel. Luther schreibt in De servo arbitrio: „Alle Gegenstände des Glaubens sind notwendigerweise verborgen.“ Das gilt auch – und vielleicht heute besonders! – von der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche, die wir im Glaubensbekenntnis bekennen. Denn auch da, wo sie als konkrete Ortsgemeinde sichtbar um den Altar versammelt ist, muss sie noch geglaubt werden. Gesehen werden kann sie genauso wenig wie die Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi in, mit und unter den Gestalten von Brot und Wein. „Was Gott Sohn gesprochen, nehm ich glaubend an; er ist selbst die Wahrheit, die nicht trügen kann“ – auch was die Existenz der universalen Kirche betrifft nicht. Wo Wort und Sakrament sind, da glauben wir sie gegenwärtig. Das heißt dann aber auch: Nicht überall wo Amt und sichtbare Hierarchie – das angebliche Skelett des Leibes Christi – vorhanden sind, ist notwendigerweise auch schon Kirche Jesu Christi. Auch zu einer auf doktrinellen Abwegen sich befindenden Bischofskirche mit Kathedralen und Sukzessionslisten kann der Herr sprechen: „Denke nun daran, aus welcher Höhe du gefallen bist, und tue Buße und tue die ersten Werke! Wenn aber nicht, werde ich über dich kommen und deinen Leuchter wegstoßen von seiner Stätte – wenn du nicht Buße tust“ (Offb 2,5). Die Apostolizität und Rechtgläubigkeit der Kirche ist eben nicht schon dadurch gewährleistet, dass es in ihr Ämter und Sukzessionslisten gibt, sondern vielmehr durch das beständige Bleiben in der Lehre der Apostel (vgl. Apg 2,42). Eberhard Jüngel schreibt hierzu: „Die wahre apostolische Sukzession ist die Sukzession der Bezeugung der Wahrheit des Evangeliums, wie es im Kanon der Heiligen Schrift identifizierbar ist. An die Stelle des Apostels ist nicht der Bischof, sondern der Kanon getreten.“ Aus diesem Grund lehren auch die lutherischen Bekenntnisse, dass man selbst „Bischöfen, die ordentlich gewählt sind, nicht gehorchen [soll], wenn sie irren oder etwas gegen die heilige, göttliche Schrift lehren oder anordnen“ (CA 28).
Wir sehen also: Zwischen römisch-katholischem und lutherischem Kirchenverständnis bestehen zum Teil gravierende Unterschiede. Der größte dürfte in der Frage bestehen, ob dem Wort Gottes ein absoluter Primat – auch vor der Kirche – zukommt, oder ob es als heilige und mit Ehrfurcht zu behandelnde Verfügungsmasse der Kirche mehr oder weniger bei– bzw. nachgeordnet ist. Als Lutheraner bekennen wir uns dazu, dass Gott seine Kirche allein durch das äußere Wort baut und erbaut. Bei aller Unterschiedlichkeit sollten wir aber nicht vergessen, dass Er das überall tut, wo sein Wort gelesen und verkündigt wird und wo Menschen im Namen des dreieinigen Gottes getauft werden – auch in der römisch-katholischen Gemeinschaft. Hier, auf Erden, sind wir getrennte Brüder (fratres sejuncti); dann aber, in der Ewigkeit, werden wir eine Herde sein, unter einem Hirten.
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