Zu Kirche und Bekenntnis – ein Interview mit Philippi

Vor kurzem haben wir Friedrich Adolph Philippi im Zug nach Leipzig getroffen, wo er alte Freunde besuchen wollte. Wir haben die Gelegenheit gleich genutzt, ein paar Fragen loszuwerden:

Lieber Herr Philippi, warum, würden Sie sagen, braucht es die Bekenntnisschiften, warum nicht „allein die Schrift“?

„[D]ie rechtgläubigen Kirchenväter der ersten vier Jahrhunderte stützten sich gegenüber der falschen, häretischen Tradition auf die echte, apostolische Tradition, wie dieselbe in den apostelgestifteten Gemeinden und der gesamten mit denselben im Zusammenhange stehenden katholischen Kirche allgemein anerkannt und herrschend war. Der Inhalt dieser puristischen Tradition war wesentlich kein anderer, als der unseres apostolischen Symbolums, also keine die Schriftlehre ergänzende Geheimlehre, sondern nur ein Kompendium der offenkundigen Schriftlehre selber. In der Polemik gegen die Häresie reichte die Berufung auf die Schrift nicht aus, weil dieselbe im häretischen Sinne ausgelegt und verdreht ward. Dagegen bildete der angeblichen privaten Tradition gegenüber die Provokation auf die in ihrem Ursprunge und in ihrer Fortpflanzung offen vorliegende, katholische Tradition eine siegreiche Instanz.“

 

War Gott bei der Auswahl der Bekenntnisschriften am Wirken?

„Ja. So müssen wir es beispielsweise als ein Werk der göttlichen Providenz betrachten, dass nicht jede Privatäußerung Luthers in die Bekenntnisschriften der Kirche übergegangen ist, sondern nur das von ihm im Lichte des göttlichen Geistes und dem göttlichen Worte gemäß Geredete und Gelehrte.“

 

Wenn Gott bei dem Zustandekommen der Bekenntnisschriften am Werk ist, sind Schrift und Tradition dann gleichzuordnen?

„Den o.g. Kirchenlehrern bleibt die heilige Schrift an sich dennoch oberstes Erkenntnisprinzip und alleinige Norm. Die im praktisch-polemischen Interesse austretende Nebenordnung der Tradition und Schrift war so lange naturgemäß und ungefährlich, als eben die Tradition noch wesentlich rein und dem summarischen Schrifttum entsprechend war. Sie wurde nur in dem Maße irrtümlich und gefährlich, als die Tradition mit menschlichen Zusätzen überladen und entstellt ward. Darum war nun die Reformation berechtigt, wie verpflichtet, den Kampf für die Schrift und gegen die Tradition aufzunehmen und die unbedingte normative Autorität der ersteren nicht nur im Verhältnisse, sondern auch im Gegensatze zur letzteren hinzustellen, in ein Licht zu setzen, welches ihrer Zeit neu, aber auch heller war, als das ursprüngliche, und unumstößlich zu befestigen.“

 

Wie beschreiben Sie den Unterschied zwischen Schrift und Tradition?

„Ein Unterschied der kirchlichen Erleuchtung zu der Inspiration der heiligen Schrift bezieht sich auf den Unterschied des Inhaltes und der Form. Die Form der kirchlichen Lehre ist eine historisch gewordene, durch besondere Umstände bedingte. Die dem schriftgemäßen, kirchlichen Glauben widersprechenden Lehren übten einen bedeutenden Einfluss auf die Wahl dieser oder jener Ausdrücke der kirchlichen Lehre, indem man in möglichster Kürze den kirchlichen Sinn durch eine dem unkirchlichen Irrtume entgegengesetzte, der von ihm gewählten Form widersprechende Bezeichnung der Sache darzustellen suchte. Darum ist nun auch der kirchliche Ausdruck nur ein geschichtlicher und bedingt, nicht ein an sich und unbedingt notwendiger und deshalb auch nicht ein absolut unveränderlicher und durchweg unverbesserlicher zu nennen. Ist er auch, auf Ursprung und Gegensatz gesehen, ein sehr angemessener, so ist er doch hier und da ein etwas unbeholfener, ist er auch frei von sachlichem Irrtume, so ist er doch fern von formeller Vollendung. Dies Bewusstsein von der verschiedenen Dignität des Inhaltes und der Form der Kirchenlehre ist zu allen Zeiten von den Kirchenlehrern geltend gemacht worden, selbst da, wo ihm praktisch nicht hinlänglich Folge gegeben wurde. Hingegen bei der inspirierten heiligen Schrift fällt dieser Unterschied zwischen Form und Inhalt weg; die göttliche Kraft, welche den Menschengeist befähigte, ganz in das Offenbarungsobjekt einzudringen, gab auch die entsprechendste Form für den Inhalt, weshalb auch die Form der heiligen Schrift als unabänderlich feststehend und unverbesserlich zu betrachten ist.“

Sie sagten, „ein Unterschied“. Gibt es weitere?

„Es ist zum Beispiel auch ein Unterschied zwischen der Schriftinspiration und der Kirchenerleuchtung festzustellen, der sich eigentlich von selbst ergibt, und den wir auch als den ersten hätten aufführen können, weil sich alle anderen aus ihm ergeben. Es ist der Unterschied des Ursprünglichen und des Abgeleiteten, der relativ unmittelbaren und der vermittelten, der schöpferischen und der erhaltenden Tätigkeit des inspirierenden oder des erleuchtenden Gottesgeistes. Die Inspiration der Propheten und Apostel ist eine produktive, die Erleuchtung der Kirche eine reproduktive, denn nur an dem Worte der Propheten und Apostel hat sich je und je das Heilsverständnis innerhalb der Kirche entwickelt. Allerdings ist diese Wiedererzeugung der in der Schrift niedergelegten, ursprünglichen Offenbarungswahrheit keine bloß mechanische Wiederholung, sondern eine organische Entwickelung und Entfaltung, etwa in dem Verhältnisse der Pflanze zum Keime; doch ist im Keime immer schon der ganze Inhalt der Pflanze gesetzt und vorgebildet, so wie er auch Kraft, Maß und Ziel der gesamten Entwickelung in sich enthält und bedingt. Während also die Erleuchtung der Kirche nur eine tatsächliche, begrenzte, allmählig werdende, nur auf den Inhalt bezügliche, abgeleitete ist, ist die Inspiration der Schrift eine notwendige, unbeschränkte, vollendet seiende, Form und Inhalt gleichmäßig umfassende, ursprüngliche Erleuchtung. Die Inspiration erscheint so freilich von der Erleuchtung zunächst nur mehr graduell verschieden; insofern aber die Inspiration den absolut vollkommenen Grad der Erleuchtung darstellt, geht der graduelle Unterschied von selbst in den spezifischen über […].“

Wie ich sehe, fährt unser Zug schon in den Bahnhof ein und wir müssen aussteigen. Vielen Dank für Ihre Gedanken, Herr Philippi!

Zitate aus: Friedrich Adolph Philippi, Kirchliche Glaubenslehre I.

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