Als Christen bekennen wir Jesus als wahren Gott und wahren Menschen, als Gott im Fleisch. Jedenfalls sollten wir das tun. Aber wer Augen im und Ohren am Kopf hat, der weiß, dass auch dieser zentrale Glaubenssatz von den christlichen Kathedern und Kanzeln im Lande nicht mehr so selbstverständlich zu hören ist, wie es der Fall sein sollte. Insbesondere liberale protestantische Theologen und Pfarrer tun sich schwer damit, verkünden stattdessen Christus als (gescheiterten) apokalyptischen Wanderprediger oder bloßen Menschen, dem allenfalls ein besonderes Gottesbewusstsein attestiert werden kann. Hinzu kommen Kritik und Anfragen von außen. Muslime und Zeugen Jehovas lehnen die Lehre von der wahren Gottheit Jesu ausdrücklich ab, halten sie gar für Götzendienst (širk). Grund genug, sich mit der klassischen Lehre der Kirche neu vertraut zu machen. Woher kommt sie? Was besagt sie? Und: Kann sie gegen die vielfältige Kritik redlich verteidigt werden?
1. Das Zeugnis der christlichen Urgemeinde
Nach allgemeiner christlicher Überzeugung, haben wir es in Jesus Christus mit dem einzig-einen, dem lebendigen Gott zu tun. Schon in einem der älteren Texte des Neuen Testaments (NT) heißt es: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber“ (2 Kor 5,19). Und an anderer Stelle: „In ihm [Jesus] wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ (Kol 2,9). Beide Aussagen stammen vom Apostel Paulus (gest. um 64). Aber auch die anderen Apostel bleiben hinter dieser hohen Christologie nicht zurück. So schreibt beispielsweise der Apostel Johannes über Jesus: „Dieser ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben“ (1 Joh 5,20). Petrus bezeichnet Jesus Christus in der Adresszeile seines zweiten Briefes als unsern Gott und Heiland (vgl. 2 Pet 1,1). Und auch der Herrenbruder Jakobus, dem in der historisch-kritischen Forschung stark judaisierende Tendenzen nachgesagt werden, nennt Jesus „unsern Herrn der Herrlichkeit“ (Jak 2,1). Wir sehen also: An neutestamentlichen Stellen, die Jesus als Gott bezeichnen oder ihn – direkt wie indirekt – mit dem alttestamentlichen Bundesgott Jahwe identifizieren, herrscht kein Mangel. Sie könnten hier zu Hunderten aufgeführt werden:
„Hardly a page of the New Testament lacks implicit reference to the Christ who is true God without ceasing to be truly human and unreservedly human without ceasing to be eternal Son.“ (Thomas C. Oden)
Dass in der Urgemeinde auch zum auferstandenen und aufgefahrenen Jesus gebetet wurde, wird ebenfalls im NT bezeugt. So ruft der erste Märtyrer der Christenheit, Stephanus, während seiner Steinigung aus: „Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!“ (Apg 7,59). Auch das berühmte „Maranata!“, also: „Unser Herr, komm!“ am Ende des 1. Korintherbriefs muss als direkte Anrufung Jesu verstanden werden (s.a. Offb 22,20). Weiterhin belegen auch außerbiblische Quellen, dass die frühen Christen Jesus solchermaßen angerufen haben. So bittet Ignatius von Antiochien, der um 110 von den Römern hingerichtete Gemeindeleiter, die Mitglieder der römischen Gemeinde: „Flehet Christus für mich an“.Und in seinem Brief an die Epheser bekennt er:„[U]nser Gott Jesus, der Christus, wurde von Maria im Leibe getragen nach dem Heilsplan Gottes, aus Davids Samen zwar, und doch aus dem Heiligen Geist.“
Aber auch nicht-christliche, heidnische Zeugnisse sind uns erhalten. Der römische Legat Plinius der Jüngere, der um 109 u.a. für die Organisation der Christenverfolgung in Bithynien und Pontus verantwortlich war, schreibt in einem Brief an Kaiser Trajan:
„Sie [die Christen] beteuerten jedoch, ihre ganze Schuld oder auch ihre Verirrung habe darin bestanden, dass sie gewöhnlich an einem fest gesetzten Tag vor Sonnenaufgang sich versammelt, Christus als ihrem Gott im Wechsel Lob gesungen und sich mit einem Eid (sacramentum) verpflichtet hätten.“
Aus diesen und anderen Gründen kommt der Historiker und Neutestamentler Larry Hurtado zu dem Ergebnis:
„The evidence indicates that the heavenly Christ was regularly invoked and appealed to in prayer and that this practice began among Jewish Christians in an Aramaic-speaking setting, probably the first stratum of the Christian movement. And, as is true of the dominant place of Christ in hymns of the early Christian groups, this regularized place of Christ in such prayer is without parallel in Jewish groups.“
2. Das Selbstzeugnis Jesu
Angesichts dieser Zeugnisse drängt sich eine Frage unweigerlich auf: Wie konnte es dazu kommen? Wie konnte es in zunächst primär judenchristlichen Gemeinden, die fest im jüdischen Monotheismus verwurzelt waren (vgl. Dtn 6,4) und in denen obendrein noch Augenzeugen der Geschehnisse um Jesus zugegen waren (vgl. Lk 1,2; 1 Kor 15,5; 1 Joh 1,1; 2 Pet 1,16), zur kultischen Verehrung und Anbetung des Mannes aus Nazareth kommen? Handelt es sich dabei schlicht um mythologische Überhöhung aus religiösem Enthusiasmus, wie historisch-kritische Forscher annehmen; oder gar um eine von Paulus forcierte Missionstrategie der geschickten Anpassung an die pagane Umwelt, wie muslimische Apologeten zuweilen zu behaupten pflegen? Oder entspringt der Glaube an die Gottheit Jesu, wie gläubige Christen meinen, direkt aus dem Selbstzeugnis Jesu und dem unmittelbaren Erleben der Auferstehung des Gekreuzigten durch den ersten Jüngerkreis? Die Frühdatierung der genannten Zeugnisse spricht für letzteres. So meint auch Joseph Ratzinger im ersten Band seiner Jesus-Trilogie:
„[D]as Große, das Neue und Erregende kommt gerade von Jesus; im Glauben und Leben der Gemeinde wird es entfaltet, aber nicht geschaffen. Ja, die ‚Gemeinde‘ hätte sich gar nicht erst gebildet und überlebt, wenn ihr nicht eine außerordentliche Wirkung vorausgegangen wäre.“
Und auch der – durchaus historisch-kritische – Neutestamentler Udo Schnelle schreibt in seiner Theologie des Neuen Testaments:
„Alle historischen, theologischen und religionsgeschichtlichen Beobachtungen sprechen für die These, dass die Entstehung der Christologie eine natürliche Folge des vorösterlichen Anspruches Jesu sowie der grundlegenden Erfahrungen der ersten Christen mit dem Auferstandenen und dem Heiligen Geist ist.“
Gegner des christlichen Glaubens verweisen an dieser Stelle allerdings gerne darauf, dass Jesus sich auch nach dem Zeugnis der Evangelien niemals selbst als Gott bezeichnet bzw. zu erkennen gegeben habe. Aber verhält es sich tatsächlich so? Im Folgenden sollen zehn Begebenheiten aus den kanonischen Evangelien angeführt werden, in denen Jesus sich in Wort und Tat als wahrer Gott zu erkennen gibt.
Zunächst aber einige Vorbemerkungen zum besseren Verständnis des christlichen Inkarnationsglaubens. Christen bekennen Jesus als Gott im Fleisch bzw. als wahren Gott und wahren Menschen. Oder mit den Worten des Apostels Paulus: „Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott [dem Vater] gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt“ (Phil 2,6.7). Christen behaupten also nicht, dass das irdische Dasein Jesu, wie die Evangelien es beschreiben, eine permanente Zurschaustellung oder Manifestation seiner göttlichen Herrlichkeit war, die den Menschen seiner Umgebung keine andere Wahl ließ, als ihn als Gott zu verehren. Vielmehr war seine göttliche Natur im Stand der Erniedrigung (status exinanitionis) verborgen – „nur hier und da leuchtet sie im Leben Jesu durch das Bettlergewand der menschlichen Natur hindurch“ (Dietrich Bonhoeffer). In den evangelisch-lutherischen Bekenntnisschriften heißt es daher bezüglich der göttlichen Majestät Jesu:
„Diese Majestät hat er nach der persönlichen Vereinigung [der göttlichen und der menschlichen Natur in der Menschwerdung] stets gehabt und sich ihrer doch im Stande seiner Erniedrigung entäußert und hat aus diesem Grunde wahrhaftig an Alter, Weisheit und Gnade bei Gott und den Menschen zugenommen. Darum hat er diese Majestät nicht allezeit, sondern nur dann, wenn es ihm gefallen hat, deutlich gemacht.“ (Epitome)
Hierfür seien nun zehn Beispiele angeführt:
(1) Jesus identifiziert sich mit Jahwe. Als Mose am brennenden Dornbusch berufen wurde, fragte er Gott nach seinem Namen. Gott antwortete: „Ich bin, der ich bin. Dann sprach er: So sollst du zu den Söhnen Israel sagen: Der Ich bin hat mich zu euch gesandt“ (Ex 3,14). Diese Selbstbezeichnung – „Ich bin“– kehrt im Alten Testament des Öfteren wieder. Beim Propheten Jesaja heißt es z.B.: „Ihr seid meine Zeugen, spricht der HERR, und mein Knecht, den ich erwählt habe, damit ihr erkennt und mir glaubt und einseht, dass ich es bin“ (Jes 43,10). Obwohl zwischen dem Dornbusch-Ereignis und dem Ausspruch des Propheten mehrere Jahrhunderte lagen, begriff jeder bibelfeste Jude den Zusammenhang. So war es auch, als Jesus zu den Juden seiner Zeit sagte: „Daher sagte ich euch, dass ihr in euren Sünden sterben werdet; denn wenn ihr nicht glauben werdet, dass ich es bin, so werdet ihr in euren Sünden sterben.“ (Joh 8,24) Und: „Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham war, bin ich. Da hoben sie Steine auf, um sie auf ihn zu werfen“ (Joh 8,58.59). Der griechische Kirchenvater Johannes Chrysostomus (gest. 407) kommentiert:
„Wie der Vater spricht: Ich bin, so auch der Sohn, um dadurch eine immerwährende, niemals unterbrochene Zeit zu bezeichnen. Ebendarum hielten sie [die Juden] diesen Ausdruck für Gotteslästerung.“
Auch als Jesus vor dem Hohen Rat bekennt: „Ich bin’s; und ihr werdet sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen mit den Wolken des Himmels“ (Mk 14,62), wussten die jüdischen Gelehrten dies sofort recht zu deuten: „Da zerriss der Hohepriester seine Kleider und sprach: Was bedürfen wir weiterer Zeugen? Ihr habt die Gotteslästerung gehört“ (Mk 14,63.64a). Als Jesus von sich sagte „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30), wollten die Juden ihn ebenfalls steinigen. Warum? „[W]eil du, der du ein Mensch bist, dich selbst zu Gott machst“ (Joh 10,33).
(2) Jesus bezeichnet sich selbst als Menschensohn. Wie wir bereits unter Punkt (1) gesehen haben, bezeichnet Jesus sich selbst als Menschensohn bzw. Sohn des Menschen (aram. bar enascha). Er sagt u.a. von sich: „Denn auch der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45). Er bezieht sich damit auf eine Vision des alttestamentlichen Propheten Daniel: „Ich schaute in Visionen der Nacht: Und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer wie der Sohn eines Menschen. Und er kam zu dem Alten an Tagen, und man brachte ihn vor ihn. Und ihm wurde Herrschaft und Ehre und Königtum gegeben, und alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm. Seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergeht, und sein Königtum so, dass es nicht zerstört wird“ (Dan 7,13.14). Da das Kommen mit den Wolken des Himmels im Alten Testament – ähnlich wie die ewige Herrschaft und der Dienst der Völker – ein eindeutig göttliches Prärogativ ist, können wir mit dem amerikanisch-koreanischen Neutestamentler Seyoon Kim schließen: „[T]he figure Daniel sees is a deity appearing in human form or likeness.“ Jesus verwendet also einen eindeutig göttlich konnotierten Titel.
(3) Jesus spricht von seiner eigenen Präexistenz. Wir haben bereits gesehen, dass Jesus sagt: „Ehe Abraham war, bin ich“ (Joh 8,59). Aber damit nicht genug. Im so genannten hohepriesterlichen Gebet spricht Jesus: „Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war“ (Joh 17,5). Dass es sich bei dieser Präexistenzlehre nicht um eine Sonderlehre des Johannesevangeliums handelt, wie manche behaupten, zeigen die Verse Matthäus 24,34 und 37, in denen Jesus erklärt, dass er es war, der Israel die Propheten gesandt hat: „Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel; und ihr habt nicht gewollt!“ (V. 37)
(4) Jesus – „Mehr als …“. Die alttestamentliche Heilsordnung kennt drei Ämter, durch die Gott der HERR sein Volk weidet: Tempel-Priester, Propheten und Könige. In Matthäus 12 wird überliefert, dass Jesus nacheinander von sich sagt: „Hier ist Größeres als der Tempel“ (V.6) – „Und siehe, hier ist mehr als Jona“ (V. 41) – „Und siehe, hier ist mehr als Salomo“ (V. 42). Der Tempel war das zentrale Kultheiligtum Israels und nach jüdischem Verständnis die Wohnung Gottes auf Erden (vgl. z.B. 2 Chr 6,2); Jona war einer der erfolgreichsten Propheten des Alten Bundes (vgl. Jona 3) und Salomo galt als der weiseste König, den Israel jemals hatte (vgl. 1 Kön 3,12). Von sich zu behaupten, mehr als das alles zu sein, wäre im Normalfall Blasphemie, Größenwahn und Selbstüberschätzung. Da wir es bei Jesus allerdings nach eigenem Bekunden mit dem göttlichen Menschensohn zu tun haben, der sogar Herr über den von Gott eingesetzten Sabbat ist (vgl. Mt 12,8), trifft seine Selbsteinschätzung zu. Jesus weiß, dass er mehr ist als die Propheten. Deshalb sagt er: „Das Gesetz und die Propheten reichen [nur] bis zu Johannes [dem Täufer]“ (Lk 16,16). Wir können daher mit dem Neutestamentler Udo Schnelle schließen: „Jesu Selbstverständnis, Verkündigung und Verhalten sprengen die Dimension des Prophetischen.“
(5) Jesus vergibt Sünden. Im Markusevangelium lesen wir: „Da nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? Und Jesus erkannte alsbald in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! Und er stand auf und nahm sogleich sein Bett und ging hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben solches noch nie gesehen“ (V. 5-11; vgl. auch Lk 7,48.49). Wäre Jesus nicht wahrer Gott, hätten die Pharisäer recht, heißt es doch in den Psalmen über Gott: „Denn bei dir [allein] ist die Vergebung, dass man dich fürchte“ (Ps 130,4).
(6) Jesus akzeptiert die Anbetung der Jünger. Jesus bekräftigt und bestätigt das alttestamentliche Gebot: „Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen“ (vgl. Dtn 6,13 mit Mt 4,10). Gleichzeitig lässt er es aber zu, dass er angebetet wird. Von den Weisen aus dem Morgenland heißt es: Sie „sahen das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an“ (Mt 2,11). Als Jesus sich nach seiner Auferstehung den Jüngern zeigt, spricht der Apostel Thomas zu ihm: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,28). Als Jesus vor den Augen der Jünger gen Himmel auffuhr heißt es: „Sie aber beteten ihn an und kehrten zurück nach Jerusalem mit großer Freude“ (Lk 24,53). Im Hebräerbrief heißt es von ihm: „Und es sollen ihn alle Engel Gottes anbeten“ (Heb 1,6). In keinem der genannten Fälle weist Jesus die Beter zurecht. Vielmehr akzeptiert er deren Huldigungen. Dass dies keine Kleinigkeit ist, zeigt das NT an anderen Stellen. Als etwa die heidnischen Bewohner von Lystra anfangen, Paulus und Barnabas ob einer getanen Wundertat als (griechische) Götter zu verehren, heißt es: „Als das die Apostel Barnabas und Paulus hörten, zerrissen sie ihre Kleider und sprangen unter das Volk und schrien: Ihr Männer, was macht ihr da? Wir sind auch sterbliche Menschen wie ihr und predigen euch das Evangelium, dass ihr euch bekehren sollt von diesen nichtigen Göttern zu dem lebendigen Gott, der Himmel und Erde und das Meer und alles, was darin ist, gemacht hat“ (Apg 14,14.15). Und als der Apostel Johannes während einer himmlischen Vision in Versuchung gerät, einen Engel anzubeten, spricht dieser: „Tu es nicht! Ich bin dein und deiner Brüder Mitknecht“ (Offb 19,10). Jesus jedoch tut nichts dergleichen.
(7) Jesus spricht davon, dass er am Jüngsten Tag richten wird. Das Alte Testament lässt uns wissen, dass Gott am Ende der Zeit über die Völker richten wird (s. z.B. Mal 3,19). Jesus jedoch spricht im NT davon, dass er richten wird: „Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden“ (Mt 25,31ff.). Oder, wie Jesus an anderer Stelle sagt: „Denn der Vater richtet niemand, sondern hat alles Gericht dem Sohn übergeben, damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren. Wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat“ (Joh 5,22). Der Apostel Paulus stimmt also mit Jesu Worten überein, wenn er schreibt: „Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass ein jeder empfange nach dem, was er getan hat im Leib, es sei gut oder böse“ (2 Kor 5,10).
(8) Jesus bezeichnet sich selbst als Alpha und Omega. Im Alten Testament spricht Gott: „So spricht der HERR, der König Israels und sein Erlöser, der HERR der Heerscharen: Ich bin der Erste und bin der Letzte, und außer mir gibt es keinen Gott“ (Jes 44,6). Im Neuen Testament heißt es: „Und als ich ihn [Jesus] sah, fiel ich zu seinen Füßen wie tot. Und er legte seine Rechte auf mich und sprach: Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige, und ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und des Hades“ (Offb 1,17.18). Und: „Siehe, ich [Jesus] komme bald und mein Lohn mit mir, um einem jeden zu vergelten, wie sein Werk ist. Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.“ (Offb 22,12.13)
(9) Jesus tut Wunder aus eigener Kraft. Vor seinem Kreuzestod sagt Jesus über sein Leben: „Niemand entreißt es mir, sondern ich gebe es von mir aus hin. Ich habe Macht, es hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen“ (Joh 10,18). Auch bei der berühmten Stillung des Sturmes heißt es: „Dann stand er auf und bedrohte die Winde und den See; und es entstand eine große Stille. Die Menschen aber wunderten sich und sagten: Was für einer ist dieser, dass auch die Winde und der See ihm gehorchen?“ (Mt 8,26.27).
(10) Jesus hat Vollmacht, die Tora zu verändern. Wir sahen bereits, dass Jesus Herr über den Sabbat, eine gottgegebene Ordnung, ist. Werfen wir einen Blick auf die Bergpredigt (Mt 5-7), so fällt auf, dass Jesus auch Herr über die Torah ist. Immer wieder heißt es dort „Ihr habt gehört, dass … Ich aber sage Euch …“. Er legt die Gebote Gottes autoritativ aus, erklärt ihre wahre Bedeutung und ändert sie zuweilen sogar ab, sodass es am Ende der Bergpredigt von seinen Zuhörern heißt: „Und es geschah, als Jesus diese Worte vollendet hatte, da erstaunten die Volksmengen sehr über seine Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten“ (Mt 7,28.29; siehe auch die Frage der Ehescheidung Mt 19).
3. Einwände gegen die Lehre von der Gottheit Jesu
Den oben angeführten Zeugnissen zum Trotz, wird die Lehre von der Gottheit Jesu von einigen religiösen Gruppen vehement in Frage gestellt. Insbesondere Muslime und Zeugen Jehovas verweisen dabei gerne auf Bibelstellen, die der christlichen Sicht auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Einigen von diesen Einwänden wollen wir uns im Folgenden widmen.
(1) Jesus betet zu Gott. Wenn Jesus Gott ist, wie kann er dann – so das Argument – zu Gott beten? Betet er etwa zu sich selbst? Nein. Gott ist nach christlich-biblischer Lehre dreieinig, d.h., in dem einzig-einen göttlichen Wesen existieren von Ewigkeit her drei Personen bzw. Seinsweisen. Gott ist der Vater und der Sohn und der Heilige Geist (vgl. Mt 28,19; 2 Kor 13,13). Nur von Gott dem Sohn gilt: „Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden“ (Nicaenum). Indem der ewige Gottessohn zusätzlich zu seiner göttlichen die menschliche Natur annimmt, macht er sich mit uns solidarisch, geht sozusagen in unseren Schuhen und „unser arm Gestalt.“ Und das nicht etwa nur zum Schein, sondern ganz und gar. Als wahrer Mensch konnte er leiden und sterben, musste schlafen, essen, trinken – und eben auch beten. Da er gleichzeitig auch wahrer Gott war, war er in allem, was er tat ohne Sünde und dient uns somit als vollkommenes Vorbild – auch was sein geistliches Leben anbelangt! Als seine Jünger können wir ihn bitten: „Herr, lehre uns beten“ (Lk 11,1). Im NT heißt es weiterhin mit drastischen Worten: „Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Und da er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber der ewigen Seligkeit geworden“ (Heb 5.7-9).
(2) Jesus sagt, dass der Vater größer ist als er. Gegner der christlichen Lehre berufen sich gerne darauf, dass Jesus gesagt hat: „der Vater ist größer als ich“ (Joh 14,28). Wenn Jesus selbst wahrer Gott ist – so das Argument –, wie kann dann der Vater größer sein als er? Entweder ist Jesus nur ein zweiter Untergott (so die Zeugen Jehovas) oder einfach nur ein Mensch (so die Muslime). Christen jedoch bekennen Jesus als wahren Gott und wahren Menschen. Das heißt: In der einen Person Jesus von Nazareth sind die göttliche und die menschliche Natur unvermischt, unverwandelt, ungetrennt und ungesondert auf ewig mit-einander verbunden (vgl. Konzil von Chalkedon 451). In Bezug auf Jesus gilt also: „Dem Vater gleich der Gottheit nach, geringer als der Vater der Menschheit nach“ (Athanasianisches Glaubensbekenntnis). Dass Jesus im Stand der Erniedrigung (status exinanitionis), in dem er sich vollkommen mit uns Menschen solidarisiert und sich seiner göttlichen Herrlichkeit entäußert, davon spricht, niedriger als der Vater zu sein, ist also kein Widerspruch. Von hierher erklärt es sich auch, warum Jesus, obwohl selbst wahrer Gott, in der biblisch-christlichen Tradition auch als Gottesknecht (hebr. ebed Jahwe) bezeichnet werden kann. „Denn Christus ist allein nach der göttlichen Natur dem Vater gleich, aber nach der angenommenen menschlichen Natur ist er unter Gott“ (Solida Declaratio).
(3) Jesus weiß nicht, wann der Jüngste Tag kommt. Gott ist allwissend. Aber Jesus sagt von sich: „Von jenem Tage aber oder der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater“ (Mk 13,32). Ist Jesus also doch nicht Gott? Doch, ist er. Wie wir aber bereits gesehen haben, gehört es zur Menschwerdung, dass der Sohn Gottes sich seiner göttlichen Majestätseigenschaften temporär enthält. Paulus schreibt: „Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“ (Phil 2,8). Zu eben diesem Akt der Selbsterniedrigung gehört aber auch der willentliche Verzicht auf die göttliche Allwissenheit. Formal und kraft seiner göttlichen Natur hat er sie besessen, faktisch jedoch nicht immer durch die menschliche Natur zur Anwendung gebracht. „Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde“ (Heb 4,15). Und: „Obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet“ (2 Kor 8,9).
(4) Jesus bezeichnet den Vater als allein wahren Gott. Jesus spricht im hohepriesterlichen Gebet zum Vater: „Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen“ (Joh 17,3). Die Anfragen an die christliche Lehre lauten nun: Wenn Jesus wahrer Gott ist, wie kann er dann von Gott gesandt sein? Und: Wenn allein der Vater wahrer Gott ist, wie kann Jesus dann auch wahrer Gott sein? Zum ersten: Die Ungleichheit der Ämter (bzw. Aufgaben) hebt die Gleichheit der Naturen nicht auf. Dass der Sohn sich im Sinne eines innertrinitarischen Ratschlusses freiwillig vom Vater ins Fleisch senden lässt, bedeutet nicht, dass er weniger Gott wäre als dieser. Zum zweiten: Dass der menschgewordene Gottessohn den Vater als allein bzw. einzig wahren Gott bezeichnet, entspricht durchaus christlicher Lehre. Denn auch nach trinitarischem Verständnis existieren ja nicht etwa drei wahre Götter, sondern ein wahres göttliches Wesen in drei Seinsweisen. Im Athanasianischen Glaubensbekenntnis heißt es daher: „So ist der Vater Gott, der Sohn Gott, der Heilige Geist Gott, und dennoch sind es nicht drei Götter, sondern es ist nur Ein Gott.“ Man kann also sowohl den Vater als auch den Sohn als auch den Heiligen Geist jeweils als einzig wahren Gott bezeichnen, ohne damit den jeweils anderen göttlichen Personen das wahre Gottsein abzusprechen. Dass Jesus es so gemeint hat, ergibt sich auch aus dem Zusammenhang des Johannesevangeliums, denn schließlich sagt er auch: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30) und: „Wer mich sieht, sieht den Vater“ (Joh 14,9).
(5) Jesus sagt, dass allein Gott gut ist. Das Markusevangelium überliefert uns einen Dialog zwischen Jesus und einem reichen Jüngling. Im Gesprächsverlauf sagt Jesus: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein“ (Mk 10,18). Für den zweiten Satz gilt natürlich das oben unter (4) gesagte: Indem Jesus Gott (den Vater) als allein gut bezeichnet, ist ja noch nicht geleugnet, dass auch der Sohn und der Heilige Geist gut sind, schließlich sind die drei Guten letztlich ein einziges gutes Wesen. Warum aber fragt Jesus: „Was nennst du mich gut?“ Ganz einfach: Weil der reiche Jüngling ihn als gut bezeichnet hatte – und das, ohne wirklich begriffen zu haben, mit wem er es da tatsächlich zu tun hatte. Die Anrede „Lehrer“ zeigt, dass der Jüngling trotz seiner Anfrage eine kritische Distanz zu Jesus wahrt: „Strangers and critics used this term when adressing Jesus to show they did not regard Him as an authority. Jesus‘ disciples seldom used this term“ (The Lutheran Study Bible). Jesus nimmt den Jüngling beim Wort: „Was nennst du mich gut?“ Oder paraphrasiert: „Du, der du meinst es in mir mit einem weiteren gewöhnlichen Rabbi zu tun zu haben, warum nennst du mich denn dann gut? Niemand ist gut als Gott allein.“ Dass Jesus tatsächlich keine Sekunde von seinem göttlichen Anspruch abrückt, zeigt der weitere Gesprächsverlauf. So fragt Jesus den Jüngling zunächst nach seiner Observanz der Gebote. Interessanterweise spricht er ihn aber nur auf die zweite Tafel der Zehn Gebote an, auf der die zwischenmenschlichen Gebote verzeichnet sind. Nach der ersten Tafel, die das rechte Gottesverhältnis zum Inhalt hat, fragt er gar nicht erst, da er bereits weiß, dass des reichen Jünglings Herz am Geld hängt. „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mt 6,24). Anstatt den Jüngling nun aber aufzufordern, sein Geld wegzugeben, mit dem ersten Gebot ernst zu machen und Gott zu folgen, sagt Jesus: „Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach!“ (Mk 10,21). Da der einzig-eine Gott, neben dem man keine andern Götter haben soll, in Jesus Christus leibhaftig gegenwärtig ist, darum hat der reiche Jüngling hier und jetzt die Chance, Buße zu tun und Gott bzw. Jesus zu folgen. Wie sagte Jesus: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir“ (Joh 10,27). Aber der reiche Jüngling hatte die Stimme seines Herrn und Hirten zwar vernommen, aber nicht erkannt. So zog er von dannen, „denn er hatte viele Güter“ (Mk 10,22). Und an denen, nicht an Gott bzw. Jesus, hing sein Herz.
(6) Es war Konstantin, der Jesus zum Gott machte. Ein weiterer Vorwurf, der heutigen Tags gern erhoben wird, ist eigentlich nicht biblischer, sondern vielmehr kirchenhistorischer Art. In zahlreichen Publikationen und auf zahllosen Websites kann man den Vorwurf lesen: Erst der heidnische Kaiser Konstantin, der das aufstrebende Christentum aus politischen Gründen hofierte, habe Jesus auf dem Konzil von Nicäa (325) zum Gott erklären lassen. Wie haltlos dieser Vorwurf ist, zeigen die oben angeführten Zeugnisse, die überwiegend der vor-nicänischen Zeit, ja größtenteils sogar dem ersten Jahrhundert entstammen. Da sich dieser Vorwurf aber großer Beliebtheit erfreut – insbesondere seit seiner Massenverbreitung durch Dan Browns Erfolgsroman „Sakrileg“ –, wollen wir uns ihm etwas ausführlicher widmen. Zum ersten: Es ist korrekt, dass das Konzil auf Geheiß des römischen Kaisers Konstantin einberufen wurde. Dieser hatte die Bischöfe der damaligen Christenheit nach Nicäa (heute: Iznik) eingeladen, um eine Lehrstreitigkeit beizulegen, die im dritten Jahrhundert durch die neue, neo-platonisch inspirierte Lehre des alexandrinischen Presbyters Arius ausgelöst worden war. Letzterer nahm zwischen Gott Vater und Gott Sohn eine Verhältnisbestimmung vor, die der bisherigen christlichen Orthodoxie widersprach:
„Der Sohn ist nach dem Modell des Arius Gott, aber nicht ‚wahrer Gott‘, weil er nicht an der Natur des Vaters Anteil hat und deswegen in Rang, Autorität und Herrlichkeit untergeordnet ist.“ (Hubertus Drobner, Lehrbuch der Patrologie)
Arius und seine Anhänger waren also bei weitem keine Proto-Muslime, die das bloße Menschsein Jesu lehrten. Vielmehr vertraten sie die Ansicht, der Sohn Gottes sei ein zweiter Gott (deuteros theos), der von dem einzig-einen Gott noch vor Grundlegung der Welt geschaffen worden ist. Die Christenheit hatte aber bis dato Jesus nicht als einen (Unter-)Gott neben Gott bekannt, sondern als eingeborenen Sohn, als göttliches Wort und wahren Gott im Fleisch. So z.B. Ignatius (um 109): „Gott offenbarte sich als Mensch zu einem neuen ewigen Leben.“ Aus diesem Grund verurteilten die versammelten Bischöfe die Lehre des Arius und erklärten die Lehre von der Wesensgleichheit (Homoousie) von Vater und Sohn für verbindlich. Sie lehrten damit also nichts neues, sondern verteidigten und präzisierten lediglich die bestehende christologische Lehre. Dem systematischen Theologen Wolfgang Trillhaas ist also Recht zu geben, wenn er in seiner Dogmatik schreibt:
„Es ging um Bewahrung und Abwehr. Die christologische Lehrbildung lief in den ersten sieben Jahrhunderten (…) im wesentlichen auf Abgrenzung hinaus. Man hat das Geheimnis der gottmenschlichen Person Jesu Christi mit einem Kranz von Negationen umgeben.“
Und diese entschiedene Abgrenzung war aus christlicher Sicht auch bitter nötig. Denn:
„Wie ein Mensch sterben muß, dessen Nieren die Gifte nicht mehr ausscheiden, die sich im Körper angesammelt haben, so muß die Kirche sterben, welche die Häresie nicht mehr ausscheidet“ (Hermann Sasse).
(7) Die christlichen Schriften sind verfälscht worden. Der Vorwurf der Schriftverfälschung bzw. Nichtbewahrung durch Juden und Christen wird in der Regel von islamischer Seite vorgebracht (taḥrīf). Im Koran heißt es: „Unter denen die dem Judentum angehören, entstellen welche die Worte [der Schrift?] [indem sie sie] von der Stelle weg[nehmen], an die sie hingehören“ (Sura An-nisāʾ, 45). Ähnliche Anschuldigungen werden auch den frühen Christen gegenüber geäußert. Bezüglich unseres Themas lautet die Argumentation wie folgt: Jesus war lediglich ein menschlicher Gesandter und Prophet, der eine Offenbarungsschrift von Gott gebracht hat; er wurde weder gekreuzigt, noch ist er auferstanden; er hat nie behauptet Gott oder Gottes Sohn zu sein; erst ein Teil seiner Jünger hat aus ihm den gekreuzigten und auferstandenen Gottessohn gemacht; eigentlich war Jesus Muslim avant la lettre.
Hierbei handelt es sich freilich um eine dogmatische, anachronistische und ahistorische Sicht, die bestrebt ist, islamische Glaubenssätze in die Frühgeschichte des Christentums zurück zu projizieren. Denn (1.) ist weder der theologischen noch der historischen Forschung eine Schrift bekannt, die direkt auf Jesus zurückginge; (2.) sind die kanonischen Evangelien, wie wir sie im Neue Testament finden, allgemein als die ältesten und bestbezeugten bekannten Evangelienschriften anerkannt; (3.) bestätigen zwei Jahrhunderte textkritischer Arbeit (Erforschung und Vergleich antiker Handschriften, Abgleich mit Kirchenväterzitaten etc.) ihre absolute Zuverlässigkeit in den großen Fragen des Glaubens und (4.) bestätigen auch nicht-christliche Zeitzeugen (z.B. Flavius Josephus, Sueton, Tacitus) den frühen Glauben an die Kreuzigung und Auferstehung Jesu. Zudem gilt:
„Der Evangelientext ist der am besten überlieferte Text aus der Antike überhaupt.“ (Martin Hengel)
Und auch der bedeutende Textkritiker und Neutestamentler Kurt Aland urteilt:
„Es scheint ganz ausgeschlossen, daß ein Glossator, der irgendwann im Traditionsstrom drei Verse willkürlich einschiebt, die gesamte Überlieferung in seinen Bann zwingen kann, so daß auch nicht ein Zeuge übrigbleibt, der uns den Zustand vor dem Eingriff zeigt.“
Genau das ist aber in Bezug auf die islamische Version der Geschichte der Fall: Es existiert nicht ein frühes Textzeugnis, demzufolge an der Stelle Jesu ein anderer gekreuzigt worden wäre, während dieser in den Himmel entrückt wurde (Substitutionstheorie). Erst im späten zweiten Jahrhundert finden sich sogenannte doketistische Irrlehren, die behaupten, Jesus habe nur zum Schein gelitten. Anders als den Muslimen geht es den Doketisten dabei aber um die Leugnung der wahren Menschennatur: Für sie ist Jesus Gott – und da Gott per se leidensunfähig ist, kann Jesus am Kreuz auch nur scheinbar gelitten haben.
Gerne verweisen muslimische Apologeten auch auf die sogenannten judenchristlichen Evangelien: das Nazaräer-, das Ebionäer- und das Hebräerevangelium. Alle drei sind aber nach einschlägiger Forschungsmeinung von den kanonischen Evangelien abhängig. In dem von Wilhelm Schneemelcher herausgegebenen Standardwerk zu den Neutestamentlichen Apokryphen heißt es z.B. bezüglich des Nazaräerevangeliums (NE):
„Terminus a quo ist danach die Abfassung des Mt [Matthäus], terminus ad quem Hegesippus (180), der als erster die Existenz des NE bezeugt. Es wird in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts entstanden sein.“
Mit anderen Worten: Nicht die kanonischen Evangelien sind Abwandlungen der ursprünglichen judenchristlichen, sondern die judenchristlichen sind Abwandlungen der ursprünglichen kanonischen Evangelien! Aber auch inhaltlich bestätigen sie die islamische Sicht der Dinge nicht: So berichteten das Nazaräer- und das Hebräerevangelium wohl von der Kreuzigung und Auferstehung Jesu. Der Ebionismus, der islamischen Vorstellungen in christologischer Hinsicht noch am nächsten kommt, leugnete die im NT und im Koran gelehrte Jungfrauengeburt und erwartete – in verschiedenen Varianten – die baldige Wiederkunft des gekreuzigten Christus als Engelwesen.
Dass auch die kanonischen Texte, die in die Bibel Eingang gefunden haben, von Menschen verfasst wurden, geben Christen übrigens freimütig zu: „[G]etrieben vom Heiligen Geist haben Menschen in Gottes Auftrag geredet“ (2 Pet 1,20). Die heiligen Schriften sind also Gottes- und Menschenwort:
„Wie der ewige Sohn Gottes wahrhaftiger historischer Mensch wird, ohne aufzuhören, Gott zu sein, so gehört es zum Wesen des göttlichen Offenbarungswortes, daß es in der Zeit zu Menschen gesprochen, von Menschenmund verkündigt, von Menschenhand niedergeschrieben, wahrhaftiges Menschenwort wird, ohne aufzuhören, Gottes ewiges, unfehlbares und unvergängliches Wort zu sein.“ (Hermann Sasse, Sacra Scriptura)
Wie verhält es sich aber nun mit den Textvarianten im Neuen Testament? Hierzu ist zunächst zu sagen: Ja, es gibt sie. In der Regel handelt es sich aber um typische Kopistenfehler wie Zeilensprünge, alternative Schreibweisen von Namen oder ausgelassenen Konjunktionen (siehe insbesondere das movable ‚Nu‘ und das Iota subscriptum). In 99 Prozent der Fälle sind diese Varianten nicht bedeutungsverändernd. Zudem sind sie gut erforscht und allesamt im textkritischen Apparat des „Novum Testamentum Graece“ verzeichnet. Es besteht also für Christen kein Grund zur Beunruhigung. Erneut Kurt Aland:
„Der Text des Neuen Testaments ist hervorragend überliefert, besser als der jeder anderen Schrift der Antike; die Aussicht, dass sich Handschriften finden, die seinen Text grundlegend verändern, ist gleich Null.“
Abschließend sei hier noch angemerkt: Würde die islamische Theologie sich der text- und literarkritischen Erforschung des Korans nicht nahezu gänzlich verweigern, würde sie im koranischen Textbestand ähnliche Varianten entdecken. Der Islamwissenschaftler Thomas Hildebrandt schreibt in seinem Vorwort zu Nasr Hamid Abu Zaids Gottes Menschenwort: Für ein humanistisches Verständnis des Koran:
„Diese Umwandlung [vom Wort Muhammads zum Buch bzw. mushaf], die Muslime zumeist für einen derart zuverlässig ausgeführten und inspirierten Akt halten, dass ihr Resultat genau die Art von Buch war, die Gott von Anfang an im Sinn hatte, ist für Historiker natürlich ein zutiefst menschlicher Kodifizierungsprozess, den man in seinen Einzelheiten analysieren kann – oder könnte, denn an dieses Projekt hat sich in der islamischen Welt noch niemand ernsthaft gewagt.“
Und auch sein französischer Kollege Claude Gilliot schreibt im Cambridge Companion to the Quran:
„No critical edition of the Quran which could be a basis for its scholarly reconstruction has ever been produced.”
4. Fazit
Es wurde gezeigt, dass der Glaube an die wahre Gottheit Jesu Christi keine hellenistische Kopfgeburt des 3./4. Jahrhunderts ist: Er geht vielmehr zurück auf die aramäisch-sprachige Urgemeinde der Zeit- und Augenzeugen, wurde in den apostolischen Schriften des Neuen Testaments niedergelegt und bewahrt, vom orthodoxen Mainstream der Christenheit in den ersten Jahrhunderten kontinuierlich als Glaubensregel (regula fidei) weitergegeben und auf dem Konzil von Nicäa autoritativ gegen die arianische Irrlehre verteidigt. Mit anderen Worten:
„Es gab keine Entwicklung von einer ‚niedrigen‘ judenchristlichen Christologie hin zu einer hellenistisch synkretistischen ‚hohen‘ Christologie.“ (Udo Schnelle)
Der Autor dieser Zeilen wünscht daher allen Lesern, dass sie die „Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi“ (2 Kor 4,6) erkennen mögen. Den Weg dazu hat Er selbst gewiesen und eröffnet. Denn: „Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden“ (1 Joh 4,9.10). Oder, um mit Martin Luther zu schließen:
„Man darf nicht zur Untersuchung der göttlichen Majestät hinaufsteigen, ehe wir dieses Kind (Christus) wohl gefasst haben; sondern man muss in den Himmel steigen auf dieser Leiter, die uns vorgelegt ist; man muss sich dieser Stufen bedienen, die Gott zu diesem Hinaufsteigen gefertigt und angelegt hat. Der Sohn Gottes hat nicht wollen im Himmel gesehen und gefunden werden, und deswegen ist er vom Himmel auf dieses Niedrige herabgestiegen und ist zu uns in unser Fleisch gekommen, und hat sich in den Schoß der Mutter und in die Krippe gelegt und ans Kreuz schlagen lassen. Diese Leiter hat er auf dieser Erde angelegt, dass wir auf selbiger zu Gott hinaufsteigen sollten. Auf diesem Wege muss man einhergehen.“
Hinweis: Eine frühere Version des obigen Artikels erschien bereits unter dem Titel „Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch“ in der vom Martin Bucer Seminar herausgegebenen Online-Zeitschrift „Glauben und Denken heute“, Ausgabe 2/2018.