„Der heilige Geist der Gemeinschaft“ ist die einizige Regel und Richtschnur – Teil 1 der 10 Thesen des theologischen Liberalismus des 19. Jhdts.

Schon vor einer Weile erwähnten wir (hier) das Protestpapier, das 1847 gegen die Einsetzung Adolph von Harless‘ als Pfarrer der Nikolaikirche zu Leipzig veröffentlicht wurde. Diesem angehängt sind 10 „Sätze über die neue und alte Kirche“, die einiges Interessantes bieten. Zum Ersten sollten sie all jenen Klarheit verschaffen, die wähnen, es gäbe liberales Christentum erst ab dem 2. oder, naja, sagen wir 1. Weltkrieg. Tillich, Bultmann etc. waren nicht die Ersten, sondern nur die Erfolgreichsten ihrer Linie.

Zweitens haben die Verfasser hier keine Schmierenkampagne betrieben sondern sehr klar, wenn auch stellenweise versehentlich zu eng oder unscharf (z.B. Erbsünde) dargestellt, was die alte, nähmlich die christliche, Kirche vertritt. Es ist eigentlich herzerfrischend, wenn man merkt, dass der Verfasser so von der eigenen Richtigkeit überzeugt war, dass er die Dogmen der Gegner genau so darstellt, wie sie sind, und dann sagt: „Seht ihr?“. Warum wagen wir zu sagen, es gäbe eine homogene christliche Kirche? Kurz, und das sollte man zur Zeit und zur Unzeit immer wieder aussprechen und verteidigen: Weil Kirche nichts ist als eine „Gemeinschaft der Gläubigen“, das heißt, sie ist durch das Glauben (lies: fürwahrhalten) bestimmter Inhalte definiert. Wer diese nicht glaubt, der ist nicht Teil der Kirche. Welche Inhalte: Durch die Geschichte gleiches Grundfundament sind die drei altkirchlichen Glaubensbekenntnisse.

Letztlich: Bezüglich der Sätze von der neuen Kirche bemerkt man beim Lesen einen fast schon naiven Idealismus und … höre ich da Gesetzlichkeit raus? Hohen moralischen Geist? Man achte besonders auf These 5, die sicher als das heute gemingültigste Schriftauslegungsprinzip protestantischer Großkirchen gewertet werden kann.

Zehn Sätze

über die neue und die alte Kirche

I.

Jede Gesellschaft von Menschen, welche durch gemeinschaftliche Bildungsmittel Bildung und Veredlung des Geistes bezweckt, ist eine Kirche. Jede Kirche, welche den Geist Gottes wie er in Christo war und in der christlichen Menschheit ist, zur Lebenskraft und zum Lebensgesetze Aller machen will, ist eine christliche Kirche.

Nach den Symbolen der rechtgläubigen protestantischen Kirche ist die unsichtbare Kirche die Gesellschaft aller wahren Gläubigen d. h. Aller, welche den speciellen Glauben der Kirche haben, daß Gott allein um des blutigen, stellvertretenden Verdienstes des Gottmenschen willen dem Sünder gnädig sein wolle. Die fichtbare Kirche bilden alle die Gläubigen, welche das symbolische Bekenntniß öffentlich als das ihrige annehmen.

II.

Dieser allen Menschen gemeinsame heil. Geist kann die gemeinsame Lebenskraft und das gemeinsame Lebensgesetz aller Menschen werden. Es gibt unter allen vernünftig gebildeten Menschen eine Uebereinstimmung des Geistes in dem unmittelbaren sittl. Bewußtsein. Der heilige Geist, als ein werdender, ist das Gewissen im Menschen, das sittliche Wissen von dem, was recht und gut ist. Es hat sein Urbild und seinen Gesetzgeber in einem heiligen Sein in Liebe, in Gott, dem höchsten Geist, der heilig ist. Das ist das gemeinsame religiöse Bewußtsein. Jeder Mensch weiß sich innerlich verpflichtet, heilig zu denken und zu handeln; jeder weiß sich innerlich für alle Ewigkeit um so seliger, je heiliger er wird.

Nach den Symbolen der rechtgläub. prot. Kirche ist das Gemeinsame der Glaube, die Uebereinstimmung der Ansichten über Natur und Wesen Gottes (Dreieinigkeit), über die ersten Ursachen der unsittlichen Lüste im Menschen (Erbsünde), über die Beweggründe der göttl. Gnade, (blutige stellvertretende Genugthuung des Gottmenschen). Die Kirche macht von der Annahme dieser Glaubensansichten die Seligkeit abhängig; sie behauptet, daß der Mensch ohne den speciellen, rechtfertigenden Glauben der Kirche an das blutige Verdienst Christi nichts Gutes thun und durch ein rechtschaffenes Leben selig werden könne. Außer dieser Kirche der Rechtgläubigen ist kein Heil!

III.

Dieser heilige Geist im Menschen kommt von Gott, den vollkommensten Geiste. Er ist aber kein übernatürlicher oder außermenschlicher und fremder Geist, sondern gehört zu des natürlichen Menschen eigensten Wesen. Jeder natürliche Mensch empfängt ihn mit der Geburt als Keim und Anlage und ist so organisiert, daß er durch Menschen und in der Gesellschaft zu einem freien, selbstbewußten, selbstständigen und unsterblichen Menschen – Wesen erzogen und aus eigner Kraft gut und felig werden kann.

Nach den Symbolen der rechtgläub. prot. Kirche wird der Mensch seit Adams Sündenfall mit natürlicher Verderbtheit geboren und ist in feinem natürlichen Zustande, auch bevor er wirklich selber fündigt, vor Gott ein verlorner und verdammter Sünder, zu allem gottwohlgefälligen Guten ohne alle Kraft und gänzlich unfähig und vermag aus eigener Kraft nichts, als Sünde zu thun. Die Taufe tilgt nur die Schuld dieser Erbsünde*, aber auch nur in den Gläubigen. Der Sünder kann seine Wiedergeburt nur durch eine über natürliche Einwirkung des heil. Geistes beginnen und vollenden, welche eben falls wieder nur den Gläubigen ohne ihr Zuthun zu Theil wird. Der heil. Geist gehört nicht zu des Menschen Wesen, sondern ist die dritte Person in der heil Dreipersönlichkeit,

IV

Das, was der vollkommenste Geist wirklich ist und was der Menschengeist werden soll, kann der Mensch jedoch nur in Menschen und in der Welt erkennen, in welcher der Gottesgeist sich allein offenbart. In ausgezeichneteren Menschen aber hat unter besonderen Umständen dieser heilige Geist sich klarer entwickelt, als in Anderen. Deßhalb werden die in den heiligen Schriften enthaltenen religiös-sittlichen Ueberzeugungen und Lebensgeschichten der Edelsten unseres Geschlechts, und vor Allem Wort und Leben Jesu Christi, des anerkannt heiligsten Menschen, dessen Denken und Handeln vom heiligen Geist ganz erfüllt und regiert war, für alle Zeiten und Menschen der beste gemeinsame Erziehungs-, Bildungs- und Erbauungsstoff sein. Deßhalb wird die Menschheit stets der Vergegenwärtigung des heiligen und liebenden Gottes und seines Willens in Lehre (Kinderlehre und Predigt) und Cultus (Weihehandlungen, Gebet, Gesang, Kunstwerken etc) als religiös-sittlicher Bildungs- und Kräftigungsmittel des heiligen Geisteslebens bedürfen.

Die Symbole der rechtglaub. protest. Kirche betrachten nur das Wort Gottes und die Sakramente als die Mittel, durch welche jedem Einzelnen die Gnade Gottes zufließe. Diese Gnadenmittel geben den heil. Geist, welcher den Glauben (d. h. den speziellen seligmachenden Glauben an das Verdienst Christi) bewirkt, und auch das, nur da, wo es Gott gefällt, nur da, wo der heilige Geist zuvor die Herzen dahin erleuchtet und belehrt, so daß sie dem Worte glauben und beistimmen können! Alle, die ohne das äußere Wort und ohne die Sakramente auf irgend eine andere Weise den h. Geist erlangen zu können glauben, werden verdammt. Die Sakramente haben (nicht eine bloß moralische, sondern) eine mystische, geheimnißvolle, übernatürliche Wirkung, indem sie abermals wiederum nur den Glauben an die Sündenvergebung um des blutigen Opfers Christi willen stärken, aus welchem Glauben allein erst die Heiligung fließt. – Ferner wird behauptet, daß Christus zwar ein wahrer Mensch, zugleich aber wahrer Gott und die zweite Perfon in der h. Dreieinigkeit war, Gott in allen Stücken gleich, die heiligen Schriftsteller aber werden als willenlose Werkzeuge des heil. Geistes betrachtet, der sie inspirierte und ihnen dictierte, was sie schreiben sollten**

V

Da die heilige Schrift als christliches Bildungsmittel nur Werth und Bedeutung hat als Erzeugniß dieses Geistes, so steht auch der heilige Geist der Gemeinschaft über der heiligen Schrift. Jede Gesellschaft, deren Glieder an dem heiligen Geiste der Vorzeit und den heiligen Schriften herangebildet worden sind, hat das Recht und die Befähigung, nach ihrer Ueberzeugung die heilige Schrift zu erklären und sich aus ihr diejenigen gemeinsamen Bildungsstoffe zu wählen, welche den natürlichsten religiös-sittlichen Bedürfnissen ihres Menschengeistes entspricht. Nicht der Buchstabe der Schrift, sondern das eigene, gemeinsame sittlich-religiöse Bewußtsein ist, als der heil. Geist, die höchste Autorität, wenn es auch aus der heil. Schrift sich stets neu erzeugt und ergänzt.

Nach den Symbolen der protestantischen Kirche hat die Schrift ein übernatürliches Ansehen. Alle canonischen Schriften des A. und M. Testaments sind bis auf jedes Wort Gottes Wort. Die Schrift ist in allen zur Seligkeit nothwendigen Dingen für jeden Leser zwar verständlich, es gibt zwar grundsätzlich kein (?) kirchliches Auslegungstribunal, da die Uebereinstimmung der Bibelausleger schon das Rechte finden wird: aber dessen ungeachtet betrachtet die Kirche die öcumenischen Symbole der alten Kirche und die Bekenntnißschriften der Reformationszeit als die einzig richtige Darstellung der Schriftwahrheit. Die Gesammtheit hat kein Recht, Anderes in der Schrift zu finden, als die Kirchenväter und Reformatoren haften können fo lange nicht im Staate aufgehen, als die in einem Staate lebenden Menschen über gemein

* In der katholischen Kirche, ja, in der lutherischen werden alle Sünden durch die Taufe vergebe

** Die Annahme willenloser Verfasser ist keineswegs das einzige, wenn auch an bestimmten Punkten der lutherischen Orthodoxie gelehrte, Verständnis göttlicher Inspiration der ganzen Schrift

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